Was bei einer Filmproduktion keine gute Nachricht wäre, nämlich der dreißigste Take für eine einzige Szene, ist in der Welt der Filmfeste etwas ganz anderes. Wenn es einem Festival gelingt, über dreißig Jahre nicht nur durchzuhalten, sondern sogar inhaltliche Akzente zu setzen - dann ist das durchaus beachtlich.
Man könnte denken: Es ist alles gesagt. Nach dreißig Jahren dürfte kein Gedanke übrig sein, der über das Internationale Filmfest Oldenburg nicht schon mal gedacht oder sogar geäußert wurde. Zumal es sich nicht jedes Jahr vollkommen neu erfindet. Im Gegenteil: Es sind einerseits der Markenkern, auf unangepasste Indie-Filme zu setzten, und andererseits die Wiederkehr beliebter Programmpunkte, die das Festivals ausmachen.
Ist das Filmfest also zur Gewohnheit worden? Ja und nein, wie vor allem die alljährliche Pressekonferenz zeigt. Auch deren Ablauf ist zwar bekannt, doch sie bietet immer viele Neuigkeiten: Über Sponsoren, Streaming, Streiks - und natürlich über Filme.
30. INTERNATIONALES FILMFEST OLDENBURG
13. BIS 17. SEPTEMBER 2023
VORAB-TERMINE:
29. AUGUST, 10 UHR: START DES VORVERKAUFS:
29. AUGUST, 20 UHR: PRE-SCREENING
„FORBIDDEN PLANET“, USA 1956
30. AUGUST, 18 UHR: TRAILER-SHOW
5. SEPTEMBER, 20 UHR: PRE-SCREENING
„SILENT RUNNING“, USA, 1974
Ruhe vor dem Sturm
Wer Festivalchef Torsten Neumann kennt, weiß aus Erfahrung: Mit jedem Tag, den das Festival näherrückt, steigt der Stresspegel ein wenig an - nicht zuletzt deshalb, weil manche Entscheidungen erst kurz vor dem Start fallen. Bei der Pressekonferenz am 15. August, etwas mehr als vier Wochen vor der Eröffnung, ist davon wenig zu spüren. Torsten ist auskunftsfreudig. Um das runde Jubiläum macht er nicht viel Aufhebens. Doch es wirkt, als freue er sich aufrichtig darüber, mit dem Filmfest dieses hohe Alter erreicht zu haben - ohne sich dabei allzu sehr verbiegen zu müssen.
Letzteres ist entscheidend. Das Filmfest mag insgesamt ein wenig ruhiger geworden sein, am inhaltlichen Kern wurde im Laufe der Zeit aber wenig verändert. Weiterhin steht das Oldenburger Festival für unangepasste, unabhängige Filme, die etwas ausprobieren. Dass trotzdem Kreditinstitute, Autohäuser und Bäckerein zu den Unterstützer:innen zählen? Zeigt, dass man sich nicht unbedingt dem Mainstream anpassen muss, um erfolgreich zu sein.
Oldenburg im Premierenfieber
Auch wenn es durchaus Neues rund um das Filmfest zu berichten gab, nahmen zwei Programmpunkte den größten Raum der Pressekonferenz ein. Erstens: die Vorstellung der ersten Programmhöhepunkte. Und zweitens: Die Präsentation des neuen Trailers, der - passend zum Jubiläum - der längste in der Geschichte des Filmfestes ist.
Sein oder nicht sein: Die Image-Kampagnen zum Filmfest in Cannes sind sehr beliebt. (Bilder: Filmfest)
Ein Blick auf die provisorische Film-Liste lässt manche Augenbrauen zucken: Nicht weniger als acht Mal steht dort das Kürzel „WP“ - für Weltpremiere. Das ist der Goldstandard der Filmfestivals: Eine Weltpremiere ist das Beste weil Exklusivste, was man seinem Publikum bieten kann. Je mehr dabei sind, desto höherrangig ist das Festival einzuschätzen. Torsten ist deshalb auch sehr zufrieden mit der Zwischenbilanz: „Unsere Reputation hat sich sehr gut entwickelt“, stellt er fest. „Etliche Filmemacher:innen haben bewusst Oldenburg für ihre Weltpremiere ausgewählt.“ Natürlich wolle jeder nach Cannes, aber da seien die Chancen nicht so groß, vor allem für unbequeme Filme und Erstlingswerke. Da sei Oldenburg das bessere Pflaster.
FILMFEST OLDENBURG WELTSTAR DER NISCHE Viel hat sich verändert seit den Anfängen in den frühen Neunzigern. Das Festival ist professioneller geworden, ein wenig vernünftiger und vielleicht sogar etwas angepasster. Eines ist aber geblieben: Die Fähigkeit, vermeintliche Widersprüche aufzulösen. Zum Beispiel jenen zwischen anspruchsvollem und unterhaltsamem Kino. Oder jenen zwischen der glamourösen Filmwelt und dem norddeutschen Oldenburg. Mit diesen Worten haben wir im letzten Jahr einausführliches Portrait über das Internationale Filmfest Oldenburg eingeleitet. Zwar wurde der Text im Vorfeld der 29. Auflage veröffentlicht, er lässt sich aber auf dieses Jahr übertragen - und auf alle weiteren. Er versucht nämlich, das Wesen des Filmfestes zu ergründen und erkunden. Für alle, die vom Filmfest zwar wissen, es aber noch nicht richtig kennen, ist der Beitrag der ideale Einstieg - für alle eingefleischten Fans eine gute Gelegenheit, sich die vergangenen drei Jahrzehnte noch einmal vor Augen zu führen.
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Lauter Favoriten
Wie gewohnt reißt Torsten bei der Pressekonferenz die ausgewählten Filme nur an. Auffällig dieses Mal: Die Zahl seiner Lieblinge und Geheimfavoriten ist fast ebenso groß wie die Zahl der überhaupt genannten Filme. Freuen dürfen wir uns unter anderem auf:
UPPERCUT Dabei handelt es sich um ein US-amerikanisches Remake des deutschen Films “Leberhaken“, der vor zwei Jahren das Filmfest eröffnet hat. Das Original war - nicht zuletzt coronabedingt - ein intimes Kammerspiel mit zwei Personen, die Hollywood-Fassung wird dagegen in zwei Varianten laufen: Einmal ganz dicht am Vorbild mit minimaler Besetzung - einmal etwas aufwändiger ausstaffiert, mit zusätzlicher Rahmenhandlung. Für alle, die vor zwei Jahren dabei waren, dürfte es spannend sein, die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu beobachten.
Torsten geht davon aus, dass neben Regisseur Torsten Rüther auch Hauptdarsteller Ving Rhames nach Oldenburg kommt. Er wird vielen aus „Mission: Impossible“ bekannt sein, wo er an der Seite von Tom Cruise agiert. Der einzige Haken dabei: Der aktuelle Schauspieler-Streik In Hollywood. Große Studios ziehen ihre Blockbuster z.B. vom Internationalen Filmfestival Toronto zurück, weil diese Premieren nur mit den Schauspieler:innen Sinn machen. Oldenburg sei davon aber kaum betroffen, weil die großen Produktionen hier eben nicht liefen, berichtet Torsten. Insofern dürfe man guter Hoffnung sein.
PASSENGER C behandelt die wahre Geschichte von Cassian Elwes, dem erfolgreichen Filmproduzenten und Hollywood Agenten, der auf einem Nachtflug von New York nach LA in einen Zwischenfall mit einem aggressiven Passagier gerät. Die Begegnung mit diesem Mann verändert sein Leben, er definiert seinen inneren Kompass neu.
Als Produzent hat er einige der großen Independent Filme der vergangenen Jahre ermöglicht, „Dallas Buyers Club“ war einen weltweiter, oscarprämierter Hit, jetzt schafft Cassian Elwes mit seinem Regiedebüt ein spannenden Spagat – einerseits ein emotionales Drama mit intensiven Momenten und tollen Darstellern, anderseits ein aufregender und sehr persönlicher Blick hinter die Kulissen der Traumfabrik. Als Co-Produzentin beweist Veronica Ferres sehr viel Einfühlungsvermögen für starkes Independentkino. „Es sieht so aus, als käme sie dieses Mal wieder nach Oldenburg“, gewährt Torsten einen Blick hinter die Kulissen - und spielt darauf an, dass es nicht der erste Besuch beim Filmfest wäre. „Von damals schwärmt sie heute noch!“
THE WAIT Nach dem großen Erfolg seines Erstlingsfilms „Before the Fall“ folgte Javier Gutiérrez dem Ruf Hollywoods und drehte den dritten Teil der Horrorsaga „The Ring“, der mit 83 Mio Dollar an den Kinokassen reüssierte. Trotzdem verbuchte man den Film als Desaster,
Gutiérrez kehrte enttäuscht von der Gefräßigkeit der Traumfabrik zurück nach Spanien und drehte seine ganz persönliche Abrechnung mit Hollywood. „The Wait“ ist ein Film wie eine Urgewalt, ein hartes Familiendrama, Cinemascope-Bilder zum Niederknien schön und eine Story, die ganz langsam in einem Alptraum landet, aus dem es kein Erwachen gibt. Europa hat eines seiner größten Talente zurück.
WHENEVER I'M ALONE WITH YOU Von Guillaume Campanacci und Vedrana Egon kommt eine romantische Komödie, inspiriert von der französischen Nouvelle Vague. Die Hauptdarsteller spielen sich selbst, ergänzt durch Guillaumes gesamte Familie, einschließlich seiner 96-jährigen Großmutter. Im zauberhaften Südfrankreich trifft der suizidale Guillaume auf Vedrana, eine Ballerina aus Sarajevo. Die Mission: Sein Herz neu zu entfachen. Doch seine Ex-Verlobte taucht auf, schwanger mit seinem Kind.
Jean-Luc Godard trifft auf Cinéma Vérité und Magischen Realismus - ein kühnes, fesselndes Kinoerlebnis. „Campanacci hat sogar eine Crowd-Fuinding-Kampagne aufgesetzt, damit die ganze Familie zur Premiere kommen kann“, erzählt Torsten und hofft, dass genug Geld zusammenkommt: „Die sind wirklich allesamt ganz fantastisch!“
DAS WUNDERKIND Kein Filmfest ohne Tatort-Premiere, dieses Mal kommt er aus München. Nach einem Häftlingsmord ermitteln Leitmayr (Udo Wachtveitl) und Batic (Miroslav Nemec) hinter Gefängnismauern. Unter Regie und Drehbuch von Thomas Stiller verlegt der Krimi ihr Büro ins Gefängnis. Machtspiele und Korruption erschweren die Aufklärung zwischen verfeindeten Häftlingsgruppen. Musterhäftling Scholz (Carlo Ljubek) gerät ins Visier, und sein begabter Sohn Ferdinand (Phileas Heyblom) in Gefahr. Die neue Tatort-Produktion verspricht eine spannungsgeladene Handlung, in der Gerechtigkeit auf Konflikte trifft und familiäre Bindungen auf die Probe gestellt werden. Und nun das Entscheidende für viele Enthusiasten: „Die beiden Münchener Kommissare werden nach Oldenburg kommen“, verrät Torsten.
KING OF ALGIERS Im Debütfilm des französischen Regisseurs Elias Belkeddar spielt Reda Kateb (u.a. bekannt aus dem oscarprämierten „Zero Dark Thirty“) den Gangster Omar, in der Unterwelt ehrfurchtsvoll „die Erdbeere“ genannt. Auf der Flucht in Algier gestrandet, um einer 20-jährigen Haftstrafe in Frankreich zu entkommen, findet er Zuflucht bei seinem Freund Roger (César-Award-Gewinner Benoît Magimel). Die Chemie der beiden Hauptdarsteller auf der Leinwand ist umwerfend. Temperamentvoll, melancholisch und einfach nur herzerwärmend entfachen die beiden eine Liebesgeschichte über Freundschaft und die Schönheit der einfachen Freuden des Lebens. „Ein ganz charmanter Gangster-Film“, findet Torsten. „Und ein echter Geheimtipp!“
ROBOT DREAMS Basierend auf der Graphic Novel der amerikanischen Autorin Sara Varon, erzählt „Robot Dreams“ von Dog and Robot im New York der 80er Jahre. Eine Geschichte über Freundschaft, ihre Bedeutung und ihre Zerbrechlichkeit. Ein Liebesbrief an den Big Apple. Dog lebt in Manhattan und hat es satt, allein zu sein. Eines Tages beschließt er, sich einen Roboter zu bauen, einen Begleiter. Ihre Freundschaft blüht auf, bis sie im Rhythmus des New York der 80er Jahre unzertrennlich werden. Eines Sommerabends muss Dog voller Trauer Robot in Coney Island am Strand zurücklassen. Werden sie sich jemals wiedersehen? Die Filme von Charlie Chaplin, Buster Keaton und Harold Lloyd waren Pflichttermine für die Robot Dreams-Crew, ihr kleines Meisterwerk des Animationsfilms wird schon jetzt als heißer Oscarkandidat gehandelt. „Ein unwiderstehlicher Animationsfilm“, findet auch Torsten.
THE BELGIAN WAVE Beim Filmfest 2017 gehörte „Spit’n’Split“ zu den absoluten Highlights: Zum einen handelt es sich um einen der wildesten Bandfilme aller Zeiten, zum anderen trat die Experimental Tropical Blues Band nach dem Screening im Theater Hof/19 nebenan im Marvins auf - und brachte die Wände zum Beben. Es war einer dieser legendären Momente, die aus dem Nichts aufzutauchen scheinen und die bleibenden Eindrucks hinterlassen.
Nun erweist sich Belgiens enfant terrible Jerome Vandewattyne erneut als Meister des Paranoiakinos. „The Belgian Wave“ nimmt sich eines der spektakulärsten Phänomene der jüngeren belgischen Geschichte an – eine Reihe an ungeklärten UFO Sichtungen Ende der 80er Jahre, die das Land in Aufregung versetzte. Ein gefundenes Fressen für den letzten echten Punkrocker des Autorenkinos, der aus dem Stoff eine psychedelische Jagd nach der Wahrheit macht, die ja eigentlich ganz einfach zu finden wäre, wenn man denn nur das Unmögliche einfach akzeptieren würde. So wie Torsten: „Ich hab schon mal ein UFO gesehen, ganz sicher.“
FILMFEST OLDENBURG TYPISCH UNTYPISCH! Wenn man ins Kino geht, ist der Ablauf eigentlich klar: Man schaut EINEN Film und geht danach vielleicht noch was Trinken. Beim Internationalen Filmfest Oldenburg ist dieses Prinzip ausgehebelt. An diesen fünf Tagen im September schaut man nicht nur einen Film pro Tag, sondern zwei oder drei - und das Rahmenprogramm steht ebenfalls im Zeichen des Festivals! Wie fühlt sich das an? Die Antwort auf diese Frage haben wir im letzten Jahr gegeben. Für euch haben wir uns in einen Filmfest-Tag und eine Filmfest-Nacht gestürzt. Und ob Zufall oder nicht: Beides war ziemlich repräsentativ. Es gab spannende Beiträge aus Ländern, die wir mit Filmindustrie eigentlich nicht in Verbindung bringen. Es gab hochemotionale Filmkunstwerke, die uns beeindruckt und bereichert zurückließen. Es gab knallharte Streifen, die unbequem und in manchen Momenten nur schwer auszuhalten waren, die uns aber trotzdem/deswegen berühren und begeistern. Und es gab eine Secret Party in einer Location, in der die wenigsten Oldenburger:innen bisher mal waren. Mehr dazu? Lest ihr hier!
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Der nächste Marlon Brando
In Sachen Filmen bleibt also alles anders. Was in diesem Fall bedeutet, dass sich die Auswahl zwar an den bekannten Mustern orientiert und die gewohnte Mischung aus Mainstream (z.B. Tatort), gefälligem Indie-Kino (King of Algiers, Passenger C) und cineastischen Wagnissen (The Belgian Wave, The Nothingness Club) bietet - dass die Filme selbst aber jeweils so individuell sind, dass man sie mit nichts vergleichen kann und deshalb neue Entdeckungen bieten.
Das gilt allerdings nicht für den Kino-Trailer für das Festival, der sich einmal mehr an einem großen Vorbild orientiert. Torsten Neumann ist zu sehen als Marlon Brando in „Apokalypse Now“ - bzw. „Oldenburg Now“. Der kleine Film zieht Parallelen zwischen dem Reich des wahnsinnigen Colonel Kurtz im kambodschanischen Dschungel und dem Treiben um Festivalchef Neumann in der norddeutschen Tiefebene. Der ist angetan vom Ergebnis: „Was wir da an einem Tag mit Null Budget hingekriegt haben, dafür hätte Coppola Millionen und vier Wochen gebraucht!“ Vielleicht liegt das am Modus operandi des Filmfest-Leiters, den er ebenfalls dem berühmten Kurtz-Monolog entlehnt: „30 Years of Unsound Methods“.
Kein Weg zurück
Die Pressekonferenz zum Internationalen Filmfest ist für das Publikum eine Art „Point of no Return“. Zum ersten Mal seit dem Schlussvorhang des Vorjahres manifestiert sich das Festival vor Ort - und sofort ist jene Anziehungskraft wieder da, der man sich schwer wieder entziehen kann.
Die gute Nachricht; Es gibt keinen Grund, das zu wollen. Das Internationale Filmfest macht uns zum dreißigsten Mal das Angebot, für fünf Tage ganz tief in die Filmwelt einzutauchen. Dafür müssen wir nicht nach Venedig oder Cannes, nicht nach Toronto oder Los Angeles. Dafür müssen wir nur ins Casablanca, Cine k, theater hof/19 oder Staatstheater, denn die Filmwelt kommt zu uns! Diese Gelegenheit sollte man nicht verpassen, denn auch nach dreißig Jahren ist keineswegs alles gedacht oder geäußert worden, was man über das Filmfest denken oder sagen könnte. Es hat zwar einen stabilen Kern, ist ansonsten aber in ständiger Bewegung - dank der innovativen Indie-Szene und dank der ureigenen „unsound methods“.
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