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DER CARL-VON-OSSIETZKY-PREIS

Wer nach Oldenburg kommt, erkennt früher oder später, dass es eine besondere Verbindung zu Carl von Ossietzky geben muss. Nicht nur ist die Universität nach ihm benannt, auch die Stadt vergibt einen Preis für Zeitgeschichte und Politik, der seinen Namen trägt. Was hat es damit auf sich? Das erklären wir hier.


Eine Büste von Carl von Ossietzky vor der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Ossietzky in Oldenburg: Obwohl der Nobelpreisträger niemals in der Stadt war, findet man heute viele Spuren von ihm. (Bilder: CvO-Universität, Kulturschnack)

Nobelpreis, Sacharow-Preis, Karlspreis: Weltbekannte Auszeichnungen wie diese stehen für die Würdigung wichtiger Persönlichkeiten und setzen ein deutliches Zeichen für die Bedeutung der damit verbundenen Themen. Sie erzielen aber auch enorme Werbeeffekte für Stockholm, Straßburg und Aachen - also jene Städte, in denen sie verliehen werden. Kein Wunder, dass diese Preise aus beinahe jeder Perspektive eine hohe Wertschätzung genießen.


Und Oldenburg? Hier gibt es den Carl-von-Ossietzky-Preis. Aber was genau verleiht die Stadt da eigentlich? Worum geht es, was hat das mit Ossietzky zu tun - und was wiederum hat Ossietzky mit Oldenburg zu tun? Und was bringt das Ganze für die Stadt? Berechtigte Fragen, die wir hier zu klären versuchen - in drei übersichtlichen Kapiteln.


 


VERLEIHUNG DES CARL VON OSSIETZKY PREISES FÜR ZEITGESCHICHTE UND POLITIK


PREISTRÄGERIN: ANNE APPLEBAUM

DONNERSTAG, 6. JUNI, 18 UHR (TICKETS)


KULTURZENTRUM PFL PETERSTRAßE 3

26121 OLDENBURG

 


Kapitel 1 Warum Carl von Ossietzky?


Fangen wir mal mit dem auffälligsten an: Dem Namen. Bei Carl von Ossietzky denken die meisten heutzutage automatische an die Universität. Damit geht häufig die Annahme einher, Ossietzky werde schon irgendwas mit der Stadt zu tun gehabt haben. Aber: Das hatte er nicht. Genauer gesagt hat Ossietzky Zeit seines Lebens nie einen Fuß nach Oldenburg gesetzt. Vielmehr war er in den Metropolen Hamburg und vor allem Berlin zuhause. Wie kam es dennoch zur Namensgebung?


Friedensnobelpreisträger Carl von Ossietzky im KZ Esterwegen vor den Toren Oldenburgs.
Aufrecht: Auch im KZ Esterwegen stand Carl von Ossietzky zu seinen Überzeugungen und erduldete dafür große Qualen. (Bild: Wikipedia/Bundesarchiv)

Das ist leider eine leidvolle, aber deswegen umso wichtigere Geschichte. Ossietzky war als Journalist für die „Weltbühne“ ein leidenschaftlicher Pazifist. Damit stand er im diametralen Gegensatz zur Ideologie der Nationalsozialisten, denen Ossietzky mehr als nur ein Dorn im Auge war.


Im Februar 1933 wurde er in „Schutzhaft“ genommen. Als prominentester politischer Häftling jener Zeit wurde ihm im Jahr 1936 der Friedensnobelpreis verliehen, doch das half ihm nicht: Ossietzky wurde in verschiedenen Konzentrationslagern interniert, unter anderem im KZ Esterwegen - das gerade mal 50 Kilometer von Oldenburg entfernt lag. Am 4. Mai 1938 erlag er schließlich in Berlin den Folgen der Misshandlungen.



Eingang der Gedenkstätte Esterwegen
Die Gedenkstätte Esterwegen. (Bild: Gedenkstätte)

Fahrt mal zur Gedenkstätte in Esterwegen, das etwa eine Autostunde westlich von Oldenburg liegt. Am besten an einem trüben Herbsttag, wenn die Kraft der Sonne schon langsam schwindet - eine unheimliche Erfahrung. Dieser Ort hat auch heute noch eine düstere Magie und mahnt uns stumm, bestimmte Entwicklungen nie wieder zuzulassen.


Diesen Umstand hat man in unserer Region als eine historische Verpflichtung interpretiert, anfänglich - in Zusammenhang mit der Namensgebung der Universität - auch gegen Widerstände. Heutzutage aber ist es Konsens, dass es sich bei der Benennung der Hochschule und beim Preis der Stadt Oldenburg um zwei angemessene und aussagekräftige, vielleicht aber auch notwendige Formen der Ehrung handelt.


Denn mit dem Carl-von-Ossietzky-Preis für Zeitgeschichte und Politik werden Persönlichkeiten geehrt, die sich im Sinne von Ossietzky eingesetzt haben: für Frieden, Versöhnung und Pazifismus, für eine Annäherung zwischen Ost und West, für ein friedvolles Zusammenleben der Nationen und Völker. Diese Persönlichkeiten zeichnen sich durch ein Engagement aus, das über das übliche Maß hinausgeht, für das sie teilweise kritisiert und angefeindet werden und das in manchen Fällen sogar gefährlich ist. Umso wichtiger ist es, dass es diese Menschen gibt. Wir brauchen sie.




 Kapitel 2  Warum Zeitgeschichte und Politik?


Der Untertitel des Preises hat es durchaus in sich. Die Formulierung „Zeitgeschichte und Politik“ mag zwar erstmal nicht aufregend klingen. Zumindest zählen die meisten Menschen diese Themen nicht zu ihren leidenschaftlichsten Interessen. Aber: Das liegt weniger an ihnen als vielmehr an einer Fehlinterpretation.



Illustre Runde: Vom Pianisten/Politaktivisten Igor Levit über die spätere Friedennobelpreisträgerin Irina Scherbakova bis zur Holocaustüberlebenden Inge Deutschkron bilden die Preisträger:innen ein breites Spektrum ab.


Zeitgeschichte und Politik sind keine abstrakten Fachgebiete, bei denen man idealerweise einschlägig studiert haben sollten, um einen Bezug herstellen zu können. Ganz im Gegenteil: Zeitgeschichte und Politik passieren jetzt, immer und überall. Sie bestimmen unser tagtägliches Leben, definieren unsere Möglichkeiten und Grenzen. Was ihr in Newsportalen anklickt, was ihr in der Zeitung lest, was ihr mit euren Freund:innen besprecht - das ist alles Zeitgeschichte und Politik. Diese Themen haben einen hohen Aktualitätsbezug und außerdem eine enorme Bedeutung.


In diesem Licht muss man auch die diesjährige Preisträgerin sehen: die Historikerin, Journalistin und Publizistin Anne Applebaum. Die 59-jährige US-Amerikanerin widmet sich einer „öffentlichen sichtbaren Zeitgeschichtsschreibung“. Damit setzt sie sich „mutig und mahnend im Sinne Carl von Ossietzkys für Demokratie und Menschenrechte in globaler Perspektive“ ein, wie es in der Begründung der Jury heißt. Was das konkret bedeutet? Man könnte sagen: Sie mischt sich ein. Anne Applebaum ist eine Chronistin der Gegenwart mit dem Wissen der Vergangeneit. Die Yale-Absolventin beobachtet und analysiert das Weltgeschehen, sie untersucht und entlarvt die Mittel und Methoden der Mächtigen, sie kommentiert und bewertet auf Basis wissenschaftlicher, journalistischer und persönlicher Expertise.



Carl-von-Ossitzky-Preisträgerin 2024 Anne Applebaum
Die Preisträgerin Anne Applebaum. (Bild: Rahil Ahmad)

Folgt Anne Applebaum auf Instagram. Dort erwartet euch eine kontrastreiche Mischung aus klaren Statements („There was no Russian election!“), politischem Background und szenischen Aufnahmen von Orten, zu denen sie als Keynote Speakerin oder Tagungsgast eingeladen wurde. Wer es etwas purer mag, schaut auf X vorbei, dort fehlt die touristische Perspektive.


Von syrischen Flüchtlingen bis zu Putins Desinformationsnarrativen, von der EU und den europäischen Finanzkrisen bis zur Reaktion auf den Terrorismus, von Lösungen für Korruption in Übergangsregierungen bis hin zur eskalierenden Wahlkampfsprache politischer Populisten bietet Applebaum sowohl Hintergrundinformationen als auch aktuelle Erkenntnisse, die für das Verständnis der Risiken und Chancen des heutigen politischen und wirtschaftlichen Klimas in der Welt von entscheidender Bedeutung sind.


Im ihrem jüngsten Werk „Die Verlockung des Autoritären“ („Twilight of Democracy“, 2020) geht sie der Frage nach, was autoritäre und illiberale Herrschaftsformen für viele Menschen so attraktiv macht und warum die Demokratie als Regierungsform weltweit unter Druck geraten ist. Das Buch wurde sofort zum New York Times-Bestseller - und schaffte es auch in Deutschland auf die Spiegel-Bestsellerliste. Kein Wunder, schließlich machen wir bei diesem Thema leider keine Ausnahme.



Studierende bringen den Namen Carl von Ossietzky an die Universität Oldenburg an.
Nicht unumstritten: Über den Namen der Carl von Ossietzky Universität war mal sich erstaunlich lange sehr uneinig. (Bild: Stadtmuseum Oldenburg / Gerresheim)


Kapitel 3 Warum ein Preis?


Verliehen wird der Preis seit 1984. Erinnern wir uns kurz zurück an die damalige Zeit: Wir befanden uns inmitten des Kalten Krieges zwischen West und Ost mit dem Brennglas Deutschland, wo beide Systeme eine Grenze teilten. Nach vier flüchtigen Jahrzehnten des Friedens in Europa schien vieles wieder auf dem Spiel zu stehen. Zudem gab es in den Jahren zuvor eine langwierige - auch international beachtete - Auseinandersetzung um die Namensgebung der Oldenburger Universität. Diese Zeit war der ideale Moment, um die pazifistischen Ideale Carl von Ossietzkys wieder aufzunehmen. Er, der im KZ Esterwegen vor den Toren Oldenburgs inhaftiert war, forderte schon sechzig Jahre zuvor "Nie wieder Krieg!". Oldenburg nahm sich zum Ziel, diejenigen Menschen auszuzeichnen, die sich im Geiste Ossietzkys genau dafür engagierten - und die dabei vor allem die Verständigung zwischen West und Ost im Blick hatten.


„Geschichte wiederholt sich nicht“, sagen manche. „Tut sie doch, wenn man nicht daraus lernt“, kontern andere. Und sie scheinen in diesem Fall recht zu haben, denn die Konstellation aus dem Jahr 1984 kommt uns heute, weitere vier Jahrzehnte später, seltsam bekannt vor. Fronten zwischen Ost und West, Kriegsgefahr in Zentraleuropa und der große Bedarf an Verständigung zwischen beiden Seiten - das ist heute fast so brennend aktuell wie damals. Der Carl-von-Ossietzky-Preis hat also weiterhin genau die richtige, wichtige Zielrichtung. Denn er hält Erinnerungen wach, vertritt Werte und Ideale und wirkt positiv in die Zukunft - genau wie seine Preisträger:innen auch.



Die langjährige Organisatorin des Carl-von-Ossietzky-Preises Gerd Grebe ist mittlerweile zwar im verdienten Ruhestand. Im Vorfeld der letzten Verleihung an den weltberühmten Pianisten Igor Levit im Dezember 2022 konnten wir aber einen Podcast mit ihr aufzeichnen. Hört nach, was sie in all den Jahren erlebte, worauf sie besonders stolz ist und was sie von der Zukunft erwartet.


Im Ergebnis wurden beim Carl-von-Ossietzky-Preis also die Ideale und die Verdienste einer großen historischen Persönlichkeit in die Gegenwart übertragen. Und genau dort gehören sie auch hin. Frieden ist vielleicht die höchste zivilisatorische Errungenschaft, denn ohne ihn nutzt alles andere nichts. Ihn zu bewahren sollte ein Ziel für uns alle sein. Dass man dafür Zeitgeschichte und Politik beeinflussen oder sogar prägen muss, leuchtet ein. Sie bestimmen unsere Wahrnehmung der Gegenwart, definieren Narrative und Framings. Sie sind also nicht weniger als dasjenige Feld, auf dem sich entscheidet, ob wir den Frieden erhalten oder nicht. Deshalb gebührt ihnen unsere große Aufmerksamkeit.


Ihr fragt euch vielleicht: Kann dieser Preis wirklich so wichtig sein, wenn er nicht auf sämtlichen Titelseiten der Nation auftaucht? Wenn er nicht in einer Reihe mit Nobelpreis, Sacharow-Preis oder Karlspreis steht? Berechtigter Einwand. Aber: Bekanntheit und Bedeutung standen noch nie in einem zwingenden Zusammenhang, sonst würde niemand die Kardashians kennen. Außerdem genießt der Preis in Fachkreisen höchste Wertschätzung. Woran es aber tatsächlich noch hakt: Möglichst vielen Menschen plausibel zu machen, warum der Preis kein Nischenthema ist, sondern uns alle betrifft und für uns alle spannend und lehrreich sein kann. Aber dafür gibt es ja uns.

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