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KULTUR ALS LEUCHTTURM

Der Brite Charles Landry ist einer der bekanntesten Städteforscher der Welt. Schon Mitte der Achtziger Jahre entwickelte er das Konzept der Creative City, das inzwischen als Grundlage der modernen Stadtentwicklung gilt. Mit seiner Agentur Comedia berät Landry heute Städte rund um den Globus - und seit neuestem auch Oldenburg. Wir haben uns mit ihm getroffen und gefragt, ob für die Stadt der Zukunft auch die Kultur eine Rolle spielt. Spolier: Ja - und ob!


Cover con Charles Landrys Buch The Creative City - A Toolkit for Urban Innovators“ anlässlich seines Besuchs in Oldenburg
Mehr Neugier wagen: Vieles muss sich ändern, damit alles belieben kann, wie es ist. (Bild: Routledge Books)

Charles Landry? Dieser Name dürfte die Herzen der meisten Kulturfans zunächst einmal kaltlassen. Weder taucht er in den aktuellen Debatten der Szene auf, noch hat er sich als Künstler oder Intendant einen Namen gemacht. Für viele ist er ein unbeschriebenes Blatt.


Er selbst hat jedoch schon einige Blätter beschrieben. Seine Bücher wie „The Creative City - A Toolkit for Urban Innovators“ gehören zum absoluten Meilensteinen der Stadtentwicklung. Zusammen mit dem US-Amerikaner Richard Florida brach er mit vielen tradierten Überzeugungen und propagierte nicht nur die Kreativität als einen entscheidenden Faktor - sondern auch die Kultur! Sie hat er als Impulsgeber erkannt und hilft Städten dabei, ihr Potenzial für sich zu nutzen. Nun auch in Oldenburg? Darüber haben wir mit ihm gesprochen.


 


Charles, vielleicht können wir zu Beginn den Kulturbegriff ein bisschen erläutern. Darunter verstehen die Leute ja durchaus Unterschiedliches. An was denkst du denn, wenn du an Kultur denkst? Was meinst du damit?


Ja, Kultur ist so ein schlüpfriges Wort. Es kann alles und nichts bedeuten. Also für mich sind es zwei Teile. Es gibt einen weiteren Begriff, dazu gehört die Frage, wer ich bin und so weiter. Dann gibt es den engeren Begriff, das sind die Kunstformen. Und in meiner Arbeit spiele ich mit beiden. Das ist ein andauerndes Wechselspiel oder eine Wechselwirkung. Und wenn man sich auf die Stadtentwicklung bezieht, denke ich immer Kultur in einem größeren, weiteren Sinne, denn Stadtentwicklung ist selbst ein Kulturprojekt.


Bestens gelaunt: Charles Landry nahm sich gerne Zeit für einen Schnack - trotz eines zweitägigen Workshops. (Bild: Kulturschnack)

Es geht dabei ja auch um Fragen wie: Was sind unsere Werte, was ist unser Mindset, wie verhält man sich? Es spielt natürlich auch eine Rolle, wo eine Stadt liegt, auf einem Berg oder am Meer, in der Sonne oder in der Kälte. Stadtentwicklung ist ein Kulturprojekt, weil Kultur ist, was wir sind.


Das war ja nun der weitere Begriff. Wie kommt denn die engere Auslegung - also die Kunstformen - ins Spiel?


Ich stelle immer die Frage: Wie können die Kunstbereiche oder die Kunstformen helfen, die Kultur der Stadt selbst zu entwickeln? Wie können sie dazu beitragen dass wir agiler, flexibler oder resilienter werden, um große Transformationen wie etwa den Klimawandel zu schaffen? Dabei frage ich auch nach ihrer Rolle. Es gibt natürlich die ursprüngliche, intrinsische Rolle, also das Schöpferische, Kreative und Expressive.


Man kann den Kunstbereichen aber auch andere Rollen zuschreiben, sie gewissermaßen instrumentalisieren. Viele Kulturschaffende hassen das natürlich, aber letztlich instrumentalisieren wir alles die ganze Zeit.

Man könnte also fragen: Wie kann Kunst helfen, ein größeres Bewusstsein für den Klimawandel zu schaffen? Wie kann sie dazu betragen, mehr Gespür für soziale Fragen zu entwickeln? Es geht also darum, eine Beziehung herzustellen zu anderen Themengebieten. Neben der intrinsischen und der instrumentellen Rolle gibt es sogar noch eine weitere: die institutionelle. Welche Rolle haben die Kultur-Institutionen? Schließlich saugen sehr viel Gelder auf. Meiner Meinung nach müssen sie etwas Exzeptionelles bieten, um das zu rechtfertigen. Natürlich hat es Vorteile, weil sie für eine gewisse Kontinuität stehen. Aber es gibt ein Spannungsverhältnis zwischen den etablierten Institutionen und den Leuten, die innovativ sind, die anders denken und die sich nicht institutionell organisieren wollen. Das heißt nicht, dass Institutionen nicht auch mal innovativ sind. Aber diese Spannungen sind doch ganz wesentlich für die Kulturpolitik und die kulturelle Stadtentwicklung.


Ankündigung von „The Art of Creative City Making“ von Charles Landry auf einem Tuk Tuk
Die Kunst der Stadtgestaltung: Charles Landry Beteiligung am „SI - South Italy Architecture Festival“ im Jahr 2020 wurde selbst zu einem Design-Kunstwerk. (Bild: BRH+)

Zwischen Mailand und Berlin


Glaubst du denn, dass die Künste auch die Kultur einer Stadt beeinflussen können? Haben sie vielleicht sogar eine besondere Bedeutung für die Stadt, eben weil sie so kreativ und anders sind als andere städtische Bereiche.


Absolut glaube ich das! Ein Beispiel: Wenn ich Mailand sage. woran denken Sie da? Natürlich an Mode, vielleicht an Design und solche Sachen. Das ist ein Anziehungspunkt - und dann haben Sie natürlich Events und Museen zu diesen Themen. Vergleichbares sieht man in vielen Orten. Also hat die Kultur ziemlich viele positve .Effekte auf den Standort. Für mich persönlich ist aber auch die Frage wichtig: ist die Kultur lebendig? Oder ist sie nur traditionell? Diese Verbindung zwischen Tradition und Innovation ist immer sehr interessant.


Natürlich sind die Vergangenheit und das Erbe wichtig. Aber wie entwickelt es sich, wie geht man damit um? Diese Fragen finde ich wirklich interessant, weil sich daran die Frage anschließt: Was machen die jungen, ambitionierten Leute? Bleiben sie in einer Stadt wie Oldenburg? Oder gehen sie weg?

Ich weiß, dass sie oft mit Mitte 30 zurückkommen, weil sie zwei Kinder haben und denken: „Oh Gott, ich kann in Berlin nicht leben!“ Aber das ist eine andere Sache. Was wichtig ist: Man muss die Sicht der jungen Leute sehen. Heute beim Workshop habe ich zum Beispiel mit Leuten gesprochen, die Skateboarding und BMX machen. Bei den Olympischen Spielen waren das genau die Sachen, die sich viele Menschen abgeschaut haben. Meine Frau zum Beispiel ist sicher nicht in einem BMX-Verein, aber sie hat das gesehen und deshalb weiß ich, dass Kim Lea Müller vom Backyard e.V. aus Oldenburg dabei war und früher auch mal Europameisterin gewesen ist. Wenn man jetzt über die Profilierung des Standorts nachdenken würde, dann könnte man sagen: Hey, wir investieren hier Oldenburg mit dem Ziel, der Hauptort für BMX zu sein in Deutschland!


IKONE DER STÄDTEFORSCHUNG KURZBIO CHARLES LANDRY Landry wurde am 1. Juni 1948 geboren. Er studierte in Großbritannien, Deutschland und Italien. Bereits in den 1970er Jahren beschäftigte er sich mit der Frage, welchen Einfluss die Faktoren Kultur und Kreativität auf die künftige Entwicklung der Städte nehmen.

Überzeugend: Charles Landry beim PICNIC Festival in der NDSM Wharf Amsterdam. (Bild: Sebastiaan ter Burg, CC BY-SA 2.0)

Im weltweiten Transformationsprozess der klassischen Wirtschafts- und Standortfaktoren, welcher mit dem Aufweichen der etablierten sozialen Systeme einhergeht, misst er dem kreativen Potential von Städten eine besondere Bedeutung für deren Überlebensfähigkeit bei. Zur zentralen Ressource der Wissensgesellschaft wird die Fähigkeit der Menschen, unkonventionelle Lösungen für zentrale Aufgaben zu finden. Städte und Regionen, die auch in Zukunft erfolgreich und lebenswert sein wollen, müssen in der Lage sein, kreatives Potential auszubilden, anzuziehen und zu halten. Charles Landry entwickelte daraufhin eine Vier-Stufen-Strategie zur Schaffung einer kreativen Stadt. 1978 gründete Charles Landry Comedia, ein renommiertes, global ausgerichtetes Beratungsunternehmen für Kultur, Stadtentwicklung und Kreativprojekte. Ende der 1980er Jahre erschuf Landry das Konzept der „Kreativen Stadt“ („Creative City“). Es beschäftigte sich mit der Frage, wie in Städten Bedingungen geschaffen werden können, die Menschen und Organisationen dazu befähigen, kreative Ideen und Problemlösungen zu entwickeln. Aus dem Konzept heraus erwuchs eine globale Bewegung, die grundlegend die Art und Weise veränderte, wie über die Potenziale und Ressourcen von Städten nachgedacht wird.


Charles Landry betreibt praxisnahe Forschung und begleitet komplexe urbane Wandlungsprozesse sowie die Umsetzung von städtebaulichen Visionen.


Dann gäbe es also einen Leuchtturm, der ausstrahlt. Können sich daran dann andere Kulturformen andocken? Oder sollte man sich ganz bewusst nur auf dieses Highlight konzentrieren?


Beides! Das ist keine Frage des Entweder-oder. Was sich nahtlos aus diesem Schwerpunkt entwickeln kann ist zum Beispiel Design - in Bezug auf Fahrräder oder auf Kleidung. Man kann aber auch viel weiter denken: Ich habe in Adelaide mal ein Theaterstück im öffentlichen Raum gesehen, bei dem Bagger getanzt haben. Man könnte sich ja durchaus vorstellen, dass es einen BMX-Tanz oder ein BMX-Ballett gäbe. Das ist jetzt natürlich nur eine Spinnerei und sowieso nur ein Beispiel. Aber: Wenn man Leute anlocken will, muss man ein bisschen nach links und rechts schauen.




Bestseller: Nein, die Verkaufscharts hat Landry nie angeführt. In Fachkreisen stehen seine Bücher aber in jedem Regal. Eines übrigens auch beim Kulturschnack. (Bilder: Verlage)


The Flexible Beast


Die Kulturszene ist ja per se innovativ und kreativ, das ist ihr Wesenskern. Müsste man sie vielleicht schon deshalb stärken, damit sie in die Stadt hinauswirken und dieses kreative Denken weiterverbreiten kann?


Das ist im Allgemeinen die Idee. Ich habe das beschrieben mit meiner Idee der kreativen Stadt und meinem Buch „The Creative City“. Es geht darum, den Sprung von der Kreativität im engeren Sinne, also Bezug bezogen auf die Kunstform, auf die gesamte Stadt zu übertragen. Sie soll sich also selbst eine Kultur der Kreativität aneignen. Wie kann man zum Beispiel das Planungssystem durchdenken? Könnte das mit irgendeinem kreativen Ansatz verbunden werden? Und da sist nur eine Facette, es gibt noch viele mehr. Im Englischen sagt man deshlab: „Creativity is a flexible beast“ und das gilt auch für die Kultur.


In meinen Vorträgen benutze ich viele Begriffe mit „e“, um ihre vielen Erscheinungsformen zu beschreiben - wie entertainment, enlightment, education, employability, empowerment, empathy. Durch diese positiven Werte entsteht ein Gefühl, das die Menschen denken lässt: „I belong here“ - ich gehöre hierher.

Das betrifft insbesondere jüngere Leute, für die ist das sehr wichtig. Es betrifft aber genauso die älteren. Die wollen sich auch vergnügen und etwas erleben. Und das muss sich gar nicht unbedingt von den Angeboten für die Jüngeren unterscheiden. Jung und Alt können nebeneinander sitzen sich von deselben Dingen inspirieren lassen.



Interessiert und engagiert: In unzähligen Gespräche auf der ganzen Welt hat Charles Landry über Stadtentwicklung gesprochen. Von Langeweile findet man bei ihm trotzdem keine Spur. (Bilder: Kulturschnack)

Kreativität und Kultur können also eine Bindungswirkung für junge Menschen erzeugen. Die fühlen sich häufig an Standorten zuhause, wo es Veränderung und Abwechslung gibt. Wenn man das bietet, gehen sie womöglich nicht nach Berlin, sondern bleiben in Städten wie Oldenburg?


Ja, und zwar dann, wenn sie das Gefühl haben, in Oldenburg Teil von etwas sein zu können. Was das bedeutet, kann ich wiederum am besten im Englischen ausdrücken: „Can I be a maker, shaper, co-creator of my evolving city?“ Kann ich also mitmachen? Kann ich gestalten oder mitgestalten? Kann ich dabei sein, wenn Veränderung passiert? Und habe ich das Gefühl, dass ich ernst genommen werde? Das ist sehr wichtig, weil man idealerweise die verschiedenen Generationen in einer Stadt vereint. Wenn das gelingt, dann muss es nicht immer die Millionenstadt sein, die den Vergleich gewinnt. Im digitalen Alter kann man wunderbar in Oldenburg wohnen und nur ab und zu mal nach Bremen oder Hamburg fahren.


Dauerbaustelle: Eine Stadt wie Oldenburg steht niemals still, ist niemals fertig. Deshalb muss der Blick ständig nach vorne gehen - in Richtung Zukunft. (Bild: Kulturschnack)

Sind deutsche Städte eigentlich schon einigermaßen weit, was dieses Thema betrifft? Gibt es hierzulande die Erkenntnis, dass man sich als Stadt immer wieder neu erfinden und immer neue Angebote machen muss? Oder sind andere Länder da viel weiter?


Das ist eine schwierige Frage. (lacht) Ich habe das Gefühl, dass der deutsche Kulturbereich - und das ist jetzt völlig verallgemeinert - ein bisschen starr ist im Vergleich zu anderen Ländern. Dort ist man vielleicht ein bisschen flexibler ist und dort passiert häufiger etwas Unerwartetes. Das ist okay. Aber ich finde, da ist noch viel Luft nach oben, wie man im Deutschen so schön sagt. Ich will nicht sagen, dass die anderen Länder wunderbar sind, aber sie sind vielleicht etwas offener gegenüber neuen Möglichkeiten. Und das möchte ich doch von der Stadt, in der ich lebe: dass verschiedene Möglichkeiten da sind, dass man sich entfalten kann und dass auch ältere Personen teilnehmen können und nicht nur zuschauen.


Mal Langsam: In Oldenburg hat es Tradition, ambitionierte Vorhaben wie die Neugestaltung des Pferdemarktes erst einmal skeptisch zu sehen. Dabei hat die Stadt gute Erfahrung damit gemacht, Leuchttürme zu setzen und zu den Pionieren zu gehören - wie bei der Fußgängerzone. (Bild: Stadt Oldenburg)

Die Kultur als Markenkern


Im Workshop ging es ja unter anderem um die Leuchtturm-Funktion von Kultur. Also darum, dass sie nicht nur nach innen wirkt, sondern auch nach außen strahlt und Leute anzieht. Wird es für die Profilbildung einer Stadt immer wichtiger, dass man die Kultur als Markenkern versteht?


Ja, hier geht es ja wirklich um Identität. Für Oldenburg ist das eine wichtige Frage, weil es so ländlich im Nirgendwo gelegen ist. Das ist nicht negativ gemeint, die Stadt befindet sich bloß einfach nicht auf den großen Kreuzwegen der nationalen Infrastruktur. Und so muss man sich natürlich Gedanken machen, wenn man Interessante Leute anlocken will. Das ist das Talentproblem. Deswegen sollte Oldenburg sich profilieren. Und die große Frage ist natürlich: Wie?


In der Außenwelt hat man nicht unbedingt das Gefühl, dass Oldenburg ein starkes Profil hat. Das heißt nicht, dass die Lebensqualität schlecht ist. Wahrscheinlich ist sie sogar sehr gut. Aber man könnte sagen, dass ein bisschen mehr Profil nicht schaden könnte. Und da würde ich vorschlagen, dass Oldenburg die weitere Welt einfach ein bisschen überrascht.

Ich fände es gut, wenn es öfter mal dazu kommt, dass die Leute sagen: „Das hätte ich ja nie gedacht. In Oldenburg? Wo liegt das denn genau? Wie komme ich dorthin?“ Solche Reaktionen würde ich mir wünschen.


PROGRAMM DS GOETHE INSTITUTS CITIES AHEAD: CULTURE, CREATIVITY, COMMUNITY Nein, Charles Landry war nicht in Oldenburg, weil der Ruf unserer Stadt durch die Welt der Städteforschung schallt. Aber warum dann? Ganz einfach: Weil man ihn buchen kann. Das Goethe Institut bietet in Kooperation mit Landry das Cities Ahead-Programm an, das von Oldenburg im September 2024 in Anspruch genommen wurde. Worum es dabei geht? Erklären wir hier.

Bekannte Gesichter: Die Oldenburger Kulturszene war beim Workshop mit Charles Landry ähnlich stark vertreten wie Politik und Verwaltung. Ein Zeichen? (Bild: Jörg Hemmen)

Das Programm Cities Ahead begleitet ambitionierte europäische Kultur- und Kreativstädte auf Ihrem Weg zu mehr internationaler Sichtbarkeit und kultureller Anziehungskraft. In einer zweitägigen Akademie vermitteln renommierte Expert*innen Praxiswissen zu Themen der internationalen kulturellen Stadtentwicklung. Durch einen weltweiten Open Call erhalten Städte weitere Impulse aus der Kultur- und Kreativwirtschaft. Die Cities Ahead Academy umfasst Fachworkshops zur Schulung der lokalen Verwal-

tungs- und Kulturakteure im Bereich der internationalen kulturellen Stadtentwicklung.

International renommierte Fachexpert*innen (u.a. Charles Landry) vermitteln Impulse für die kulturelle Transformation in den teilnehmenden Städten. Die Academy richtet sich an Vertreter*innen der Kulturverwaltung, Wirtschaftsförderung, Stadtplanung, Ämter für Internationale Beziehungen und Tourismus sowie Führungspersonal

und Angestellte lokaler Kulturinstitutionen.


Das ist ein interessanter Ansatz. Das Digitalzeitalter überflutet uns mit Informationen, vieles rauscht zwangsläufig an uns vorbei. Wenn wir aber irritiert oder überrascht werden, reagieren wir relativ stark. Das bleibt hängen.


Ja, auf jeden Fall! Wir fokussieren unsere Sinne in diesem Moment. Vielleicht sind nur die ersten fünf Minuten überraschend, aber man ist dann wenigstens ganz da, schaut einfach oder denkt ein bisschen über das nach, was man gerade sieht. Und diese Überraschungen können ganz unterschiedlich sein. Zum Beispiel bei etwas Traditionellem wie einem wunderbaren Theaterstück, aber auch bei etwas Neuartigem wie einem Ideenfestival. Man muss den weiteren Kultur-Begriff nutzen und gewissermaßen auch „seitwärts“ denken - wie bei meinem Beispiel mit dem BMX-Festival.


Karte der Stadt Oldenburg von einem Licht erleuchtet
Es werde Licht: Durch einen Leuchtturm wird man besser gesehen. Er hilft aber auch dabei, das eigene Umfeld besser wahrzunehmen. (Montage: Shutterstock/Kulturschnack)

Es geht also darum, eine Spitze zu entwickeln, die auch von außen wahrnehmbar ist und die für die Stadt steht. Die allgemeine Lebensqualität eines Ortes kann von außen schließlich niemand erfassen. Das klappt für Oldenburg schon in Hannover nicht mehr. Ist die Komprimierung auf auf ein Event oder auf ein Merkmal deswegen ideal?


Das ist eine gute Frage, eine komplexe Frage. Wenn man von Lebensqualität spricht, sind verschiedene Sachen sinnvoll und gut, aber relativ normal. Die haben keine große Außenwirkung.


Aber man braucht ein paar Höhepunkte und deren Ausstrahlung. Das ist ein sehr passendes Wort, denn einerseits geht es darum, selbst besser sichtbar zu werden, andererseits aber auch darum, andere Sachen besser zu sehen.

Dann sehe ich vielleicht auch die Stadtlandschaft und registriere, wie angenehm es ist, sich hier aufzuhalten und wie zufrieden das machen kann. Wenn man an Ausstrahlung denkt, dann muss es nicht zwangsläufig „hypervital“ oder hektisch sein. Es kann auch langsam aber stark sein. Wenn ich hier in Oldenburg für eine Strategie verantwortlich wäre, dann würde ich genau solche Sachen mischen, die etwas lauteren mit den etwas leiseren. Ich würde versuchen, das alles wie ein komplexes Bild aufzubauen.



Charles Landry bei The Next Renaissance Conference im österreichischen Linz. (Bild: Tom Mesic, CC-BY 2.0)

Mehr Neugier wagen


Du hast im Laufe der Jahrzehnte unzählige Städte gesehen und sich Gedanken dazu gemacht. Wenn Du nur einen einzigen Ratschlag geben dürftest, was Städte vielleicht noch besser machen könnten, welcher wäre das?


Ich habe ein Festival entwickelt, das Creative Bureaucracy Festival, was natürlich ein Oxymoron ist, also ein sich selbst widersprechender Begriff. Bürokratie und Verwaltung sind nicht immer schlecht, aber manchmal stecken sie in einer Art Gefängnis und kommen da nicht raus. Trotzdem gibt es dort natürlich fähige Leute und zu denen haben wir gesagt: Ihr habt auch Ideen, also her damit! Unsere Leitfrage ist dabei immer:


„How do you move from a 'No, because“- to a 'Yes, if'-Culture?“. Wie bewegt man sich also von einem „Nein, weil“ zu einem „Ja, wenn“? Und genau das wäre mein Ratschlag an die Städte: Dass man offen sein sollte und dass man Neugier fördert. Denn daraus kann sich Einfallsreichtum entwickeln und dann vielleicht Kreativität und Innovation.

Das kann der bundesdeutschen Bürokratie sicher nur gut tun. Und gilt das auch für Oldenburg im Speziellen? Oder hättest Du da noch einen anderen Ansatz?


Oldenburgs größte Gefahr ist, dass die Stadt nie eine große Krise hatte. Natürlich gibt es auch hier Probleme, wie überall. Aber es ist nicht so ein krisenhafter Ort wie andere in Deutschland. In solchen Fällen besteht immer die Gefahr, dass sich die Leute ein bisschen zu bequem fühlen. Ich bezeichne das im Englischen als „Danger of graceful decline“, also die Gefahr eines würdevollen Abstiegs, der eher schleichend passiert und deswegen nicht so wahrgenommen wird.



Alles gratis: Charles Landry bietet auf seiner Website eine ganze Reihe kürzer Veröffentlichungen mit jeweils ca. 70 Seiten zum freien Download an.


Das ist sehr interessant. Wie viele Stunden bist Du denn bis jetzt in Oldenburg gewesen?


Ich bin gestern angekommen, genauer gesagt um 19.30 Uhr.


Die Analyse ist nämlich ziemlich treffend ist. „A Graceful Decline“ könnte tatsächlich eine Gefahr für Oldenburg sein. Es gab hier wenig Industrie, sodass nie die Herausforderung bestand, ganze Stadtteile umzunutzen. Das setzt ja immer kreative Potenziale frei, wie man in anderen Städte sieht. Oldenburg hatte es bequemer, aber dadurch wurde es schwerer, mal etwas richtig Neues zu machen.


Ja, ganz genau, das ist wirklich der Fall! Diese Gemütlichkeit ist natürlich verlockend. Die Gefahr ist aber, dass man sich so ungeheuer entspannt, dass man irgendwann einschläft. Deshalb ist diese Spannung durch Krisen oder Transformationen vielleicht unbequem - aber genau richtig.





Auf jeden Fall ist es nicht innovationsfördernd, wenn man immer ganz zufrieden ist. Dann fehlt der Druck. Das kennt jede:r aus eigener Erfahrung.


Das ist auch eine wichtige Frage: Warum sollte man innovativ sein? Und ich glaube, man muss es sein. Aber nicht, um andauernd innovative Sachen zu machen, sondern um sich kontinuierlich zu fragen, was gut genug ist und was besser sein könnte. Das ist für mich der entscheidende Antrieb, um immer aufmerksam zu bleiben.


Eine Creative City zu sein heißt nicht, dass ich vierundzwanzig Stunden am Tag kreativ sein muss, sondern dass ich immer bereit bin, mich zu hinterfragen.

Ich habe mal eine Studie über Städte durchgeführt, die ungefähr die Größe von Oldenburg hatten. Die Städte hatten zwar ähnliche Ressourcen, aber die einen hatten sich besser enwtcikelt als die anderen. Warum? Weil sie sich eines gesgat hatten: „It's not okay to be okay.“ Für sich reichte es nicht aus, einfach nur mitzuschwimmen. Es wäre ein weiterer Rat von mir, zumindest die Frage zu stellen: „Is it okay to be okay?“ Diese Bereitschaft für Offenheit ist ungeheuer wichtig, denn dadurch kommt Lebendigkeit in die Stadt.


Zuviel des Guten? In Oldenburg ist man im Großen und Ganzen zufrieden mit der Stadt. Ist das etwa ein Innovationshemmnis? (Bild: OTM)

Geht es letztlich also um das Mindset, mit dem man Probleme, aber auch Potenziale betrachtet? Ganz früher war die Ästhetik wichtiger, dann kamen die Funktionalität und die autogerechte Stadt. Jetzt kann man vielleicht noch mal anders denken.


Ja! Und man darf die Dinge dabei auch durchaus emotional sehen. Ich habe eine Reihe von kleinen Büchern veröffentlicht, die man sich von meiner Website downloaden kann, wenn man will. Darin geht es unter anderem um die „sensual landscape of a city“. Wie nimmt man eine Stadt sinnlich wahr? Wie fühlt sich das an, was ist das für Material, was ist in der Geruch? Es geht darum, die Stadt mit allen Sinnen zu erfassen - und das ist dann auch kulturell. Die Kultur hat da was zu sagen.


Wie ist es eigentlich, wenn Du selbst in einer neuen Stadt ankommst? Hast Du sofort einen Blick auf die Potenziale und Defizite? Oder ist letztlich alles austauschbar?


Mein ersten Eindrücke sind ungeheuer wichtig. Wie kommt man am Bahnhof an? Wie fühlt man sich, wenn man aus dem Bahnhof rausgeht? Wie wirkt der öffentliche Raum? Es zählen aber auch die letzten Eindrücke. Man kennt das ja aus dem Marketing: Die schlechteren Sachen erzählt man sechs Leuten, die besseren Sachen nur drei Leuten. Für mich bleibt die Aufgabe hoch interessant, weil jede Stadt ein klein wenig anders ist. Ich werde zwar älter und älter und älter und ein wenig ändert sich meine Wahrnehmung. Aber: Ich bin nicht gesättigt! Wenn es so wäre, müsste ich aufhören. Dann müsste ich in Pension gehen.



 


Einfach mal die Welt überraschen


Von einer Pensionierung, so viel steht nach diesem Gespräch fest, ist der 76-jährige Charles Landry weit entfernt. Im Grunde ist er selbst der beste Beweis für seine Thesen. Denn weil er mit immer neuen Einflüssen und Impulsen zu tun hat und weil er in regem Austausch mit sehr viel jüngeren Menschen ist, bleibt er voll auf der Höhe der Zeit und gedanklich äußerst agil.


Vielleicht wird der Name des Städteforschers auch in Zukunft bei vielen Kulturfans nur Schulterzucken hervorrufen. Aber besser wär's, wenn nicht. Seine Ansichten und Ratschläge können auch für Oldenburg äußerst hilfreich sein. Und wenn die lokale Kultur dabei als Leuchtturm agiert, hätte wahrscheinlich niemand etwas dagegen. Also: Lasst uns die Welt überraschen!

Yorumlar


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