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ÜBER BRÜCKEN

Zirkuskunst erlebt ein Revival. Allerdings nicht in Form dressierter Tiere oder roter Clownsnasen. Der zeitgenössische Zirkus beeindruckt mit Artistik und Akrobatik, aber auch mit Story und Atmosphäre - und manchmal sogar mit einer speziellen Message. Bestes Beispiel: Das spektakuläre Projekt „Über_Brücken“, das von Cirque on Edge, Kulturperspektiven e.V. und dem Kulturbüro in den Wallanlagen realisiert wird.


Der Cirque on Edge zeigt „Über_Brücken“ in Oldenburg
Waghalsig: Obwohl manche Manöver atembraubend sind, geht in 99 Prozent der Fälle alles gut. (Bild: Cirque on Edge)

Was eine Brücke eigentlich ist, klärt in Deutschland natürlich eine DIN-Norm: DIN 1076 definiert sie im Verkehrsblatt-Dokument Nr. B 5276 Vers. 07/97 folgendermaßen: „Als Brücken gelten alle Überführungen eines Verkehrsweges über einen anderen Verkehrsweg, über ein Gewässer oder über tieferliegendes Gelände, wenn ihre lichte Weite zwischen den Widerlagern 2,00 Meter oder mehr beträgt.“


Alles geklärt? Nicht ganz. Denn neben dieser hochoffiziellen Definition sind Brücken natürlich noch viel mehr. Sie überwinden Hindernisse und Gefahren, sie schaffen Verbindungen zwischen Menschen und Völkern, sie sind Grundlage für Austausch und Verständigung, dienen als Symbol für Annäherung und Frieden, für Zusammenwirken und Zusammenhalt. Der Akt des Brückenbauens gewinnt dadurch erhebliche Bedeutung - insbesondere in Tagen wie diesen, in denen manche lieber Gräben vertiefen als sie zu überwinden. Das Projekt „über_brücken“ macht all diese Facetten nun auf einzigartige Weise sicht- und spürbar. Denn hier werden Artist:innen zu Baumeister:innen - und die Konstruktion zu einem Kunstwerk!


 

CIRQUE ON EDGE:

„ÜBER_BRÜCKEN“


DO, 20. JUNI, 19.30 UHR

FR, 21. JUNI, 19.30 UHR

SA, 22. JUNI - 19.30 & 22.30 UHR

SO, 23. JUNI - 15.00 UHR


WALLANLAGEN / HÖHE WALLSCHULE

26122 OLDENBURG



EINTRITT: GRUNDSÄTZLICH FREI.

ES WIRD ABER UM SPENDEN GEBETEN


 

Import aus der Schweiz


Wenn sich jemand mit Brücken auskennt, dann sind es die Schweizer:innen. Seit jeher sind sie auf diese Bauwerke angewiesen, um tiefe Täler und Schluchten zu überwinden. Und so war es auch ein Eidgenosse, der den Anstoß zum Projekt gab, nämlich Justinus Portenier. Der junge Zimmermann tauchte nach seinem Umzug gen Bremen schnell in die lokale Akrobatikszene ein und saß eines Abends mit dem Oldenburger Hjalmar Stamatopoulos im Schwarzen Herrmann zusammen.


„Justinus fragte mich, ob wir nicht zufällig Verwendung für eine 12 Meter lange Brücke aus Holz-Elementen hätten, die er konzipiert hat“, erinnert sich der Akrobatik-Trainer zurück. Der Schweizer habe damit in seiner Heimat einige Performances durchgeführt, das Projekt aber nicht weiter verfolgt. Hjalmar war von der Idee sofort gefesselt und machte sich an die Umsetzung. Schnell fand er fünf Gleichgesinnte, die ebenso große Lust auf das ungewöhnliche Projekt hatten wie er selbst, und gründete mit ihnen den Cirque on Edge. „Auf der Brücke bewegen wir uns ständig am Abgrund, da drängte sich der Namen fast auf“, erklärt Hjalmar.


Der Cirque on Edge aus Bremen gastiert in den Oldenburger Wallanlagen.
Mit Herz und Hand: Hjalmar Stamatopoulos (links) und sein Team bedienen mit „über_brücken“ zwei Ebenen: die akrobatische und die inhaltliche. (Bild: Cirque on Edge)

Die Brücke als Show


Zunächst galt es aber erstmal, das Material kennenzulernen und Vertrauen in die Konstruktion zu gewinnen. „Wir machen Akrobatik in drei, vier Metern Höhe. Wir hangeln, und schwingen. Da ist es wichtig zu wissen: Da passiert nichts", nennt Hjalmar eine Grundvoraussetzung. Ein Haken dabei: Die Brücke war für die angestammte Trainingshalle der Gruppe zu hoch. „Auf den obersten Elementen berührte man mit dem Kopf die Decke“, schildert der angehende Referendar das Dilemma. Und so zog man zum Galop de Porc und trainierte im Frühjahr bei Wind und Wetter an der frischen Luft. „Wir haben ständig das Regenradar gecheckt“, erinnert sich Hjalmar schmunzelnd, denn Feuchtigkeit machte die Elemente gefährlich rutschig.


Der Begeisterung für das Projekt tat das aber keinen Abbruch: „Die Brücke löste in uns viele Assoziationen aus. Wir haben an unseren Akrobatik-Elementen garbeitet und quasi zeitgleich eine Geschichte entwickelt.“ Doch wie wird aus einer Brücke eine Show? Dafür arbeitete das Ensemble mit Regisseur Marcel Sparmann zusammen. Er lieferte wichtige Impulse für Handlung und Inszenierung, gemeinsam mit den Artist:innen entwickelte er sie weiter. „Zwischen Akrobatik und Geschichte gab es ein Wechselspiel“, beschreibt Hjalmar das Prinzip. So entstand am Ende ein abendfüllendes Programm, das beiden Ebenen gleichermaßen gerecht wird: Der künstlerischen Darbietung, aber auch dem erzählerischen Kontext.


Die Mitglieder des Cirque on Edge konstruieren Teile der Brücke während der Aufführung von „Über_Brücken"
Hoch hinaus: Weite Teile der fünf Meter hohen Brücke werden erst im Laufe der Aufführung konstruiert- (Bild Cirque on Edge)

Mehr Vertrauen wagen


Und worum geht es? Während der Cirque on Edge bei seiner letzten Inszenierung eine eher mystische Geschichte erzählte, wird es bei „über_brücken“ politischer. Aber keine Sorge: Es werden nicht etwa Wahlprogramme rezitiert, das Thema wird auf einer metaphorischen Ebene behandelt. „Es geht um eine Verbindung, die früher einmal existiert hat, die heute aber nicht mehr da ist“, erzählt Hjalmar. Auf beiden Seiten der Haaren fragen sich Menschen: Wie gehen wir damit um? Wie finden wir wieder zueinander? Doch wo tagsüber Neugier ein Antrieb ist, wachsen nachts Widerstände und Ängste. Ob der Brückenbau gelingen wird? „Das will ich vorab nicht verraten“, lacht der leidenschaftliche Akrobat.


Fünf Vorstellungen an vier Tagen wird es in Oldenburg geben, mal nachmittags, mal früh- und einmal spätabends. Stimmungsvoll verspricht vor allem letztere zu werden, doch auch die Aufführungen bei Tageslicht haben einen großen Reiz - schließlich führen sie uns an einen besonderen Platz inmitten der Stadt: „Wir haben einen magischen Ort gesucht“, berichtet Hjalmar. „Dafür haben wir uns einiges angeschaut und mit dem Heiligengeistwall eine sehr gute Lösung gefunden.“ Auf Höhe der Wallschule wird der Brückenschlag nun stattfinden und ein Stück Oldenburger Alltag in eine besondere Bühne verwandeln.


ZIRKUS-REVIVAL NEUERFINDUNG EINES ALTBEKANNTEN Zirkus? Dabei denken immer noch viele an dressierte Tiere und rote Clownsnasen. Doch diese Zeiten sind längst vorbei, der zeitgenössische Zirkus setzt neue Schwerpunkte und weiß mit ihnen zu begeistern.

Das Common Ground Kollektiv beim Sommer-Circus im Schlosshof in Oldenburg
Spektakulär: Der Sommer-Circus war für die Akrobat:innen bei über 30 Grad eine Herausforderung, für das Publikum aber ein Genuss. (Bild: Kulturschnack)

Uwe Schwettmann muss es wissen. Zusammen mit Lisa Rinne und Andreas Baader war er es, der mit dem „Neuland-Festival“ moderne Zirkuskultur nach Oldenburg brachte - und damit erfolgreich war. „Ich habe gleich gespürt, dass es das Richtige sein könnte“, blickt er heute auf die mutige Entscheidung aus dem Jahr 2021 zurück. Für die ersten Schritte mit dem großen Festzelt an den Weser-Ems-Hallen seien aber die Corona-Hilfen nötig gewesen: „Sie haben letztlich genau das erreicht, was sie sollten: In schwierigen Zeiten Kultur-Events ermöglichen, die danach dauerhaft eine Bereicherung sind.“ Und tatsächlich: Wer in den Folgejahren 2022 und 2023 das „Winter Variete“ in der Kulturetage oder den „Sommer-Circus“ im Schlosshof gesehen hat, war vor allem eines: begeistert. „Die Nachfrage ist groß, die Veranstaltungen waren zuletzt oft ausverkauft“, freut sich Uwe über den nachhaltigen Erfolg. Nein, mit dressierten Tieren und roten Clownsnasen hat der Zirkus der Gegenwart nicht mehr viel zu tun - und das ist gut so. Dass er dank des mutigen Vorstoßes von Uwe und seinem Kulturperspektiven-Team in Oldenburg ein neues Zuhause gefunden hat, ist ein Gewinn für die Stadt - und ein Wegbereiter für den Cirque on Edge.


Die nächste Generation


Doch das ist nicht alles. Wichtig sind für Cirque on Edge auch die begleitenden Workshops für Schulen, die vormittags stattfinden. „Unsere Zirkuspädagog:innen und die Mitglieder des Ensembles bieten hier verschiedene Schwerpunkte an“, berichtet Hjalmar. Die Kinder können sich bei der Akrobatik ausprobieren, sie können sich aber auch mit der handwerklichen Konstruktion der Elemente beschäftigen. Sie verinnerlichen dabei das Prinzip: (Nur) Wenn man etwas anpackt, dann passiert und entsteht etwas. „In allen Fällen geht es um Themen wie Selbstermächtigung, Zusammenhalt und Vertrauen. Diese Dinge sind in der Akrobatik enorm wichtig“, ordnet Hjalmar ein. „Wenn wir uns im Kollektiv nicht vertrauen würden und nicht füreinander da wären, dann könnten wir diese ganzen waghalsigen Sachen gar nicht machen.“


All diese positiven Eigenschaften führten letztlich auch zum Engagement des städtischen Kulturbüros. „Wir fanden das Projekt von Anfang an überaus spannend“, erklärt dessen Leiterin Paula von Sydow. „Dieses Thema zu dieser Zeit - da haben wir sehr viel Potenzial gesehen.“ Und zwar so viel, dass das Kulturbüro nicht nur einen Zuschuss gab, sondern gleich als Mitveranstalter einstieg und das Team des Cirque on Edge auch organisatorisch unterstützte. Vor allem letzteres erwies sich beim Erstellen eines Brückenbauwerks auf öffentlichem Grund als sehr hilfreich.





Zu Tränen gerührt


Das Engagement des Kulturbüros ermöglichte auch eine besucher:innenfreundliche Kostenstruktur. Eintritt wird das artistische Spektakel nämlich nicht kosten - zumindest nicht grundsätzlich. „Jede:r soll sich das ansehen können. Wir wollten damit ein Zeichen setzen - für Demokratie, für Verbindungen zwischen den Menschen“, erklärt Hjalmar und ergänzt: „Wir möchten dazu motivieren, auch mal Dinge zu tun, die zunächst schwierig erscheinen, die aber trotzdem wichtig sind.“ Die Brücke sei ein deutliches Symbol für Verbindungen, aber auch die Geschichte mache deutlich, dass die Menschen aufeinander zugehen müssten. „Wir haben nur diese eine Welt.“


Wem die Vorstellung gefallen hat, kann sich aber trotzdem nach dem solidarischen Prinzip in Form einer Spende erkenntlich zeigen. Und die Wahrscheinlichkeit dafür ist nicht gering. Beim La Strada-Festival in Bremen waren viele Menschen sehr berührt und suchten im Anschluss an die Aufführung - teils mit Tränen in den Augen - den Austausch mit den Akteur:innen. „Das ist die schönste Rückmeldung, die man bekommen kann“, findet Hjalmar. „Die Menschen nehmen die Message mit und sind wirklich bei uns und dem Bild der Brücke.“


Der Cirque on Edge aus Bremen zeigt in Oldenburg „Über_Brücken“
Nur zusammen geht's: Die Brücke steht in mehrfacher Hinsicht symbolisch für unsere Gesamtgesellschaft. (Bild: Cirque on Edge)

Überbrücken statt untergraben


Natürlich ist „über_brücken“ vom Cirque on Edge ein Experiment. Zwar muss man sich über die Mitglieder des Ensembles wenig sorgen machen; die Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Aufführung unfallfrei abläuft, liegt nach Hjalmars beruhigender Einschätzung bei etwa 99 Prozent. Doch das Format und der Ort sind zunächst ungewohnt. Unser Rat deshalb: Geht einfach hin und schaut euch das an - der Rest passiert wahrscheinlich von ganz allein.


Hjalmar sieht das ähnlich: „Wer vorbeikommt, wird sich fragen: 'Was passiert hier? Was ist hier los?' Und dann sucht man sich einen Platz und schaut zu.“ Zwar habe der Cirque on Edge eine klassische Spielrichtung, doch das Stück erzeuge eine 360 Grad-Wirkung, man könne von überall zusehen. „Die Leute sollen sich gerne eine Picknickdecke mitnehmen, hinsetzen und schauen. Stehen ist auch okay, Hauptsache sie kommen.“ Dem können wir nur zustimmen: Der Cirque on Edge ist eine gute Truppe, sie zeigt ein ebenso begeisterndes wie spannendes und lehrreiches Stück und sie tut dies an einem wunderbaren Ort. Also kommt vorbei, riskiert einen Blick - und setzt ein klares Zeichen für Brücken statt Gräben in unserer Gesellschaft! Das geht auch ganz ohne DIN-Norm!



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