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GRAFFITI IN XXL

In deutschen Großstädten ist Beton allgegenwärtig. Neben Gebäuden sind es vor allem Brücken, die im tristen Grau ganze Straßenzüge dominieren. Eine praktikable und akeptierte Methode, die Kolosse optisch zu entschärfen, gab es bisher nicht. Bis auf eine Ausnahme: Das Projekt „Brückenkunst“ verwandelt graue Flächen in bunte Graffitiwelten. Das Ergebnis: Eine urbane Freiluftgalerie - mit Dach!



Eigentlich hat das Areal östlich des Westfalen- und nördlich des Niedersachsendamms alles, was ein städtischer Hotspot braucht: Exquisite Lage direkt am Küstenkanal, kurze Wege in die City. direkte Nähe zu Lazaruswiese und Buschhagenniederung. Dass es bisher trotzdem nicht zu den Geheimtipps für Tagestourist:innen gehört, hat allerdings einen guten Grund: Oberhalb ds Geländes verläuft nämlich die Bundesautobahn A28 - und taucht das ansonsten lauschige Plätzchen in ewigen Schatten und dauerndes Dröhnen.


Ist es deswegen zu einem Unort geworden? Ja, durchaus! Ein Problem ist das allerdings nicht, denn auch wenn dieser Lost Place touristisch kaum zu verwerten ist, übt er auf heimische Subkulturen eine große Anziehungskraft aus. Warum? Weil er gerade durch seine vermeintlichen Nachteile viel Potenzial hat - wie das Projekt „Brückenkunst“ zeigt.



Legal statt illegal


Angefangen hat alles im Jahr 2016. Der Probierwerk e.V. um den Oldenburger Graffiti-Enthusiasten Renke Harms entwickelte zusammen mit dem Präventiosrat Oldenburg ein Papier, das sich der legalen Nutzung öffentlicher Betonwüsten widmete. Die Idee stieß bei der zuständigen Autobahn GmbH - für manche durchaus überraschend - auf offene Ohren. Dort schätzt man nämlich durchaus die höhere optische Qualität jener Kunstwerke, die in Rahmen einer offiziellen - also legelan - Aktion entstehen. Mit der Unterstützung einiger Verbände und Sponsoren sowie des städtischen Kulturbüros wurde es deshalb möglich, die Flächen unterhalb der Autobahn A28 zu nutzen.


Ein karte der Stadt Oldenburg mit einer Ortsangabe für das Projekt Brückenkunst.
Niedersachsen- und Westfalendamm sind nur der Anfang: Das genutzte Areal erstreckt sich über mehrere Träger hinweg Richtung Kreyenbrück. (Grafik: Openstreetmap / Kulturschnack)

Das wurde 2017 mit dem ersten „Brückenkunst“-Festival gefeiert. Es zeigte sich zwar einerseits, dass Wände dieser Dimension gar nicht so einfach zu „bespielen“ sind - andererseits aber auch, dass es genug Aktive und Interessenten in Oldenburg gibt, um diese Idee dauerhaft anzubieten. Denn die Idee stand von Anfang an auf zwei Beinen: „Einerseits haben wir der Szene einen Ort gegeben, an dem sie sich austoben und präsentieren kann“, erklärt Renke. Andererseits gebe es aber auch die Möglchkeit, als Neuling über Workshops in die Materie Graffitti einzusteigen.


Die Premiere war ein voller Erfolg und so kam es in den Jahren 2019 und 2024 zu weiteren Brückenkunst-Festivals, inzwischen unter der Regie des Instituts für Verknüpfung. Warum die lange Pause? Nicht etwa, weil das Interesse fehlte, sondern weil zwei Kleinigkeiten daziwschenkamen. Erstens: Die Corona-Pandemie. Zweitens: Das MEMUR Urban Art Festival, das im August 2022 die Straßenkunst ins Herz der Stadt und damit ins Rampenlicht holte. In das epochale Ereignis waren viele Instituts-Mitglieder involviert, so dass an ein weiteres „Brückenkunst“-Event nicht zu denken war. Nach einer angemessenen Verschnaufpause konnte es aber wieder weitergehen.



Artists in action: Eindrücke vom bislang letzten Brückenkunst-Festival im Juni 2024. (Bilder: Kulturschnack)


Die größte Leinwand der Stadt


Wer das kleine Festival besucht, spürt zunächst erstmal eines: Entspannung. Obwohl sich aus den Boxen am Turntable dicke Beats über das Areal ausbreiten, ist die Stimmung - zumindest tagsüber - sehr gechillt. Das passt, denn obwohl Graffiti in der Öffentlichkeit eher den Ruf einer eiligen Kunst genießt, ist sie hier das genaue Gegenteil: langsam. Die beteiligten Künstler:innen aus dem norddeutschen Raum - meist mit Bezug zu Oldenbug - nehmen sich Zeit, um aufwändige Kunstwerke entstehen zu lassen.


„Bei der dritten Auflage hatten wir einen Tag wie aus dem Bilderbuch“, ist Renke auch im Nachhinein begeistert von der positiven Stimmung. „Wir hatten ein generations-übergreifendes Publikum mit vielen guten Gesprächen und glücklichen Gesichtern. Bei den Workshops hatten selbst die Kleinsten schon jede Menge Spaß.“ Im Laufe des Tages seien beeindruckende Werke entstanden, die größtenteils noch eine Weile zu sehen sein werden.



Bunte Betonwelten: Im laufe der Jahre sind unzählige Werke entstanden, die zusammen mit den vorhandenen Autobahnstrukturen eine surreale Atmosphäre erzeugen. (Bilder: Kulturschnack)


Dieser Hinweis ist durchaus nötig. Zum Prinzip der „Brückenkunst“ gehört es, dass kein Werk für die Ewiggkeit fortbesteht. Im Gegenteil: Die Vergänglichkeit ist nicht zuletzt Teil des Reizes, denn die ständige Veränderung sorgt auch für jene städtische Dynamik, die wir uns wünschen. Wer sich die entstandenen Werke anschauen möchte, muss dies also nicht unbedingt heute noch tun - ewig Zeit lassen sollte man sich aber auch nicht. Was einmal übermalt ist, kehrt niemals zurück.



Eigenwilliges Kunstwerk


Neben den Werken ist aber auch der Ort selbst eine Attraktion. Täglich passieren ihn unzählige Auto- und Radfahrer:innen auf dem Niedersachsen- oder Westfalendamm, eines zweiten Blickes würdigen ihn aber die meisten nicht. Dabei lohnt sich das Abtauchen ins Halbdunkel durchaus. Denn neben den aufwändigen Pieces an den Wänden erzeugen auch die starken Kontraste der Umgebung eine besondere Stimmung. Zwischen Schnellstraßen und Brückenstrukturen, Schiffsanhängerparkplatz und Kleingartenverein, Yachthafen und Spazierwegen ist ein sehr spezielles Stück Oldenburg entstanden - das auf eigenwillige Weise selbst ein Kunstwerk ist und das mit der Brückenkunst eine ideale Nutzung gefunden hat.


Renkes Favorit: „Tim Write hat ganze Arbeit geleistet“ lobt er das Werk des Künstlers aus Ostfriesland. (Bild: Renke Harms)

„Aus dem Unort ist ein buntes Atelier für Graffitikunst geworden“, bestätigt Renke den Eindruck. Viele unterschiedliche Menschen aus allen Ecken der Stadt und der Region kämen hier zusammen, um Graffitikunst zu feiern und zu bewundern. Das sorge auch für mehr Akzeptanz dieser Kunstform:


„Die Bürgerinnen der Stadt können der Szene über die Schulter schauen und mit ihr ins Gespräch kommen. So werden Vorurteile und Klichees abgebaut und es entsteht ein Bewusstsein für diese eher 'nischige' Kultur.“


PODCAST-KLASSIKER OHNE VERFALLSDATUM MEMUR URBAN ART FESTIVAL 2022


Im Vorfeld des Memur Urban Art Festivals sprachen wir mit Renke und Sebastian vom Institut für Verknüpfung nucht nur über das Festival sebst, sondern auch über Graffitikunst, Wandgestaltung - und darüber, wie man in einer Stadt etwas bewegen kann. Hört euch die vielen kleinen Insights und Anekdoten unbedingt an. Auch wenn zwischenzeitlich viel passiert ist - unter anderem das MEMUR selbst - haben viele Gesprächinhalte kein Vefallsdatum.


Auf dem Vormarsch


Eine Frage drängt sich auf: Geht da nicht noch mehr? Brücken und Beton gibt es in Oldenburg schließlich mehr als genug. Könnte man sie nicht auch für ähnliche Projekte nutzen? „Wir hoffen auf eine Erweiterung der legalen Flächen unter den Autobahnen“, bestätigt Renke. Dafür sei man bereits in Gesprächen mit den Eigentümer:innen. Langfristig sei aber der Plan, die „Brückenkunst“ an die jüngere Szene weiterzugeben und so den Fortbestand zu sichern.


Dazu würden auch die „Tore zu den Stadtteilen“ gehören, wie sie an der Autobahnabfahrt Marschweg für Eversten bereits Realität geworden sind. Dieses Projekt hat den Vorteil, breit in der Bevölkerung verankert zu sein, weil die die Bürger:innen an der Motivauswahl beteiligen konnte. Ob es ebenso cool ist wie die „Brückenkunst“-Werke, die sich lediglich 500 Meter weiter westlich befinden? Sollte jede:r selbst beurteilen. Doch so oder so: Urban Art ist in Oldenburg auf dem Vormarsch. Aus unserer Sicht: Ein klarer Gewinn!



Freiluftgalerie mit Dach: Das 3. Brückenkunst-Festival am Niedersachsendamm unterhalb der A28. (Bild: Kulturschnack)

Der perfekte Unort


Die Lehre aus alledem? Die Hotspots einer Stadt definieren sich ni cht über eine mehrheitsfähige Ästhteik, sondern über hre Möglichkeiten. Sind die vorhanden, dann kommen Menschen, die etwas mit ihnen anfangen können. Dann entsteht das städtische Rauschen, das wir alle so lieben und von dem es einfach nicht genug geben kann.


Die Brückenkunst treibt dieses Prinzip auf die Spitze. Für manche könnte ein Ort gar nicht weniger reizvoll sein als jener Platz unterhalb der Autobahn mit seinem schroffem Charme und seiner bestenfalls funktionalen Nutzung. Aber genau diese Eigenschaften machen die Autobahninfrastruktur zu einem perfekten Ort für Graffiti und Szreetart. Sie bietet nämlich nicht nur Möglichkeiten, sie erlangt geradezu danach, sie auch nutzen. Renke Harms und sein Team haben den Ruf gehört und mit der „Brückenkunst“ eine wunderbare urbane Attraktion geschaffen, die spektakuläre Stadtansichten bietet. Und wer weiß? Vielleicht wird das Areal genau deswegen eines Tages doch ein Geheimtipp für Tagestourist:innen. So etwas ist ja schon passiert.

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