Für gewöhnlich wird ein Gericht von einem ganz bestimmten Kreis an Personen betreten, nämlich Klägern, Beklagten, Zeugen oder Anwältinnen und Anwälten. Umso überraschender, wenn man sich dort in einer völlig anderen Rolle wiederfindet: als kunstbegeisterter Mensch. Denn im Rahmen der Reihe "Kunst trifft Recht" öffnet sich das Sozialgericht Oldenburg bereits seit vielen Jahren auch für die breite Öffentlichkeit. Wir haben uns die aktuelle Ausstellung "Sozialbericht" von Kerstin Kramer vor Ort angeschaut und ein Spannungsgefüge vorgefunden, das uns alle betrifft.

- KUNST TRIFFT RECHT - KERSTIN KRAMER "SOZIALBERICHT" - NOCH BIS 21. MAI 2025 - MO-DO: 09:00 - 15:00 UHR Fr: 09:00 - 12:00 UHR SOZIALGERICHT OLDENBURG ELISABETH-ANNA-PALAIS SCHLOSSWALL 16
Schon nach dem Betreten des Sozialgerichts im Elisabeth-Anna-Palais am Oldenburger Schlosswall ist ganz schnell klar: das hier wird eine Ausstellungsbesichtigung der etwas anderen Art. Denn während man ansonsten für gewöhnlich ganz unbefangen den Ort des Geschehens, also eine Galerie oder ein Museum, betritt, schreitet man hier zur Anmeldung an das Fenster der jeweiligen Justizbeamten. Für einen kurzen Moment ist der Zweck des Besuchs für die Person auf der anderen Seite der Scheibe völlig ungewiss. Doch hat sich das Sozialgericht Oldenburg bewusst dafür entschieden, seine Türen nicht nur der eigentlichen Interessengruppe, also für gewöhnlich Klagenden sowie Beklagten, zu öffnen sondern der Allgemeinheit ganz grundsätzlich. Also auch denjenigen, die womöglich noch nie ein Gericht von innen gesehen haben oder unter anderen Umständen nie sehen würden.

Das ganze hat etwas Aufregendes. Nachdem der Einlass in die Räumlichkeiten des Gerichts gewährt wurde, ist das erste, was das Auge erblickt, ein Metalldetektor, wobei man mit dem Blick durch diese "Pforte der Sicherheit" bereits die ersten ausgestellten Werke an den Wänden des altehrwürdigen Elisabeth-Anna-Palais erspähen kann. Nichts könnte hierbei ein passenderes Bild abgeben für das Format selbst, diese beiden vermeintlich konträren Welten, die hier im Sozialgericht in Zusammenarbeit mit der AG Kunst der Oldenburgischen Landschaft aufeinandertreffen: "Kunst trifft Recht"
Match Made in Heaven
Regionalen Künstlerinnen und Künstlern wie Kerstin Kramer bietet sich dabei eine besondere Möglichkeit, ihre Arbeiten zu präsentieren. Ergänzt werden die Ausstellungen durch ein Rahmenprogramm, bei dem die gezeigten Werke durch andere Kunstgattungen in Form von Crossovern vor Ort nochmal in neue Kontexte gesetzt werden. Zudem wird hier natürlich auch maßgeblich von den örtlichen Rahmenbedingungen profitiert, da auch das Gebäude selbst zur Wirkung der Kunst beiträgt. Das Palais, gelegen direkt am Schlossgarten und errichtet am Ende des 19. Jahrhundert, ist ein Bauwerk voller Geschichte. Ursprünglich als gemeinsame Residenz für den Großherzog Friedrich August und seine Frau Elisabeth Anna von Preußen konzipiert, hebt sich seine Architektur mit den vielen Verzierungen im Mauerwerk und dem einprägsamen "Zwiebeldach" von der Atmosphäre moderner Verwaltungsbauten im besten Sinne deutlich ab.

Die aktuelle Ausstellung mit dem Titel "Sozialbericht" gibt einen Einblick in den Schaffensprozess einer Künstlerin, der es - so beschreibt es Kerstin Kramer selbst - immer um die Beziehung zwischen den Menschen gehe. Inge von Danckelman von der AG Kunst der Oldenburgischen Landschaft fügt hierbei hinzu: "Ihre Arbeiten thematisieren das soziale Miteinander in herausfordernden Zeiten: Wie gelingt die Balance zwischen Nähe und Rückzug? Was gibt uns Sicherheit? Mit Farben, Stiften und Stein erkundet sie diese Fragen auf vielschichtige Weise und aus überraschenden Blickwinkeln. Dabei hat sie ein geschärftes Auge für die Beziehungen zwischen Menschen, Dingen und Räumen. [...] Ihre Kunst bewegt sich an der Schnittstelle zwischen Realität und Traum, zwischen Erinnerung und Vergänglichkeit. Menschen erscheinen darin nicht als feste Individuen, sondern als fragile Fragmente - in einem Schwebezustand zwischen Präsenz und Auflösung."
Gerade durch diesen Umstand, dieses auszeichnende Element ihrer Werke, entsteht eine Dynamik, die im Zusammenspiel mit der Szenerie des Ortes ein Abbild unserer Gesellschaft entstehen lässt und so zum "Match Made in Heaven" wird.
Der Raum, den wir Leben nennen
Denn ein Gericht als solches ist für gewöhnlich ein Ort der Struktur und Klarheit. Menschen betreten angespannt zu ihren festgesetzten Terminen die Säle ihrer Prozesse und erhoffen sich eine eindeutige Aussage, eine Entscheidung, ein Urteil. Die Justiz unternimmt tagtäglich den Versuch, anhand von Beweisen und Indizien den Nebel zu lichten und die letztendliche Bewertung eines geschilderten Sachverhaltes anhand der existierenden Gesetze zu ermöglichen. Es ist ein Ort der Regulationen, der festen Regeln, vorgeschriebenen Abläufen und Zugangskontrollen.

Die Arbeiten von Kerstin Kramer, die sich den Menschen präsentieren, bevor sie letztlich eben jene Gerichtssäle betreten, sind dabei oftmals das genaue Gegenteil dessen. Sie setzen auf den Wert der Vieldeutigkeit, symbolisieren die volle Freiheit des Gedankenspiels, möchten sich aus dem Korsett vorgefertigter Annahmen lösen und verweigern eine klare Aussage. Sie fordern eine ganz persönliche Interpretation von den Betrachterinnen und Betrachtern ein, die auch niemand sonst zwangsweise teilen muss. Während der Prozess auf klarer Rationalität basiert, spricht die Kunst ganz bewusst die Sprache der Emotionen. Sie berührt, sie irritiert, sie entzieht sich oft der reinen Logik. So wird ein Ort zur Versinnbildlichung unseres gesellschaftlichen Miteinanders. Denn auch unser Alltag außerhalb von juristischen Auseinandersetzungen und Gerichtsprozessen ist immer ein Aushandeln und eine ganz persönliche Interpretation dessen, wie wir unser Leben führen möchten. Doch wie auch im Elisabeth-Anna-Palais umringt diese stetige Verhandlungsmasse, die wir mit unseren Mitmenschen teilen, das Recht, das die Rahmenbedingungen für diesen Prozess vorgibt.
So bleibt abschließend zu hoffen, dass das Sozialgericht noch viele weitere Jahre seine Türen für diese Begegnungen im stetigen Spannungsverhältnis öffnen wird. Denn genau hier, zwischen Gesetz und Freiheit, zwischen Regelwerk und der kreativen Ungewissheit, entsteht eben jener gesellschaftliche Raum, den wir unser aller Leben nennen. Das macht die Reihe "Kunst trifft Recht" als solche und auch "Sozialbericht" von Kerstin Kramer zu einer Ausstellungserfahrung, die man selbst erlebt haben sollte - auch wenn man keine "Vorladung" erhalten hat. ;-)