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MITTERNACHT 24/7: DAS FÜRCHTEN LERNEN

Um zwölf Uhr nachts beginnt sie: Die Geisterstunde. Viele Menschen verbinden diesen besonderen Moment des Tages mit einem Gruselfaktor. Doch was ist eigentlich dran an dem Glauben, dass um Mitternacht seltsame Dinge passieren? Welche Rolle spielen wir selbst dabei? Und was haben die Gebrüder Grimm damit zu tun? Diese Fragen beantworten Merle Smalla und Luis Janßen mit ihrer interaktiven Ausstellung „Mitternacht 24/7“. Taucht ein in eine fantastische Parallelwelt!


Szene aus „Mitternacht 24/7“, einer interaktiven Ausstellung im Raum auf Zeit in Oldenburg
Geisterstunde: In Grimms Märchen macht sich ein namenloser Protagonist auf den Weg, den Grusel zu entdecken. Am Ende findet er aber etwas ganz anderes. (Bild: Kulturschnack)

Aschenputtel, Dornröschen, Rotkäppchen: Viele Märchen, die von den Gebrüdern Grimm niedergeschrieben wurden, kennt tatsächlich jedes Kind. Es gibt aber auch kleine Schätze der beiden Geschichtensammler, die den meisten noch unbekannt sind. Zu ihnen gehört „Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“, das im Jahre 1812 erstmals veröffentlicht wurde und von einem Jungen handelt, der sich mitternächtlichen Mutproben stellt. Nun können wir die Reise des namenlosen Protagonisten selbst nacherleben - praktischerwerise nicht in einem finsteren Wald oder einem dunklen Schloss, sondern mitten in der Oldenburger Innenstadt.


In den alten Gemäuern des Gebäudes in der Baumgartenstraße 6 haben die freischaffende Künstlerin Merle Smalla und der Grafiker/Filmemacher Luis Janßen in Zusammenarbeit mit Raum auf Zeit eine faszinierende Parallelwelt erschaffen. Man könnte sie als eine Mischung aus interaktivem Ausstellungsparcours und literarischer Rauminstallation beschreiben, oder aber als einen fantastischen Ort, der euch aus dem Alltag entführt - und womöglich das Fürchten lehrt. Darunter könnt ihr euch nichts vorstellen? Wunderbar! Dann könnt ihr nämlich direkt weiterlesen.


 

MITTERNACHT 24/7


4. APRIL - 26. APRIL 2025


VERNISSAGE AM 4. APRIL UM 19 UHR


26122 OLDENBURG


 

Täuschende Eindrücke


Nein, gruselig ist es nicht gerade, als wir uns mit Merle und Luis treffen, um uns über ihr Projekt zu unterhalten. Die Sonne strahlt, die Vögel zwitschern, eine frühlingshafte Leichtigkeit liegt über der Stadt. Wie nur, fragt man sich, soll man angesichts dieses Szenarios das Fürchten lernen? Doch der Eindruck täuscht: Sobald man durch die Tür zur Baumgartenstraße 6 schreitet, ändern sich die Empfindungen. Wortlos begrüßt uns die Morbidität des Zerfalls und gibt einen Vorgeschmack dessen, was noch folgen mag. Und das ist noch sehr viel mehr als dieser erste Moment.


Szene aus „Mitternacht 24/7“, einer interaktiven Ausstellung im Raum auf Zeit in Oldenburg
Charme des Zerfalls: Das Gebäude Baumgartenstraße 6 ist der perfekte Ort für alle, die ausziehen wollen, um das Fürchten zu lernen. (bild: Kulturschnack)

Merle und Luis stecken mitten in den Vorbereitungen für „Mitternacht 24/7“. Inspiriert wurden sie nicht etwa von aktuellen Horrorfilmen, sondern von den Gebrüdern Grimm, genauer gesagt von deren Märchen „Von einem, der auszog, das fürchten zu lernen“. Ein sperriger, aber dennoch vielsagender Titel - schließlich ist er beinahe schon eine Inhaltsangabe. „Ich habe ein Märchenbuch von meinem Vater, das ist uralt, ziemlich zerfleddert und vollgekritzelt“, erzählt Luis. Dort habe er die Geschichte gefunden und sie sei ihm besonders in Erinnerung geblieben.


„Von allen Märchen war es für mich das interessanteste. Bei vielen anderen Geschichten sind die Motive und die Moral so offensichtlich. Hier ist das viel weniger der Fall - und darin liegt der Reiz.“

Merles erste Begegnung mit dem Stoff passierte ebenfalls schon in der Kindheit anhand einer Märchen-Kassette: „Nach dem ersten Hören war ich erstmal traumatisiert“, lacht sie heute. Doch vieles von dem, was ihr früher gruselig erschien, inspiriere sie heute zu ihrer Kunst. „Manche sagen mir einen Hang zum Düsteren nach, aber ich breche das immer mit etwas Nettem oder Niedlichem“, erzählt sie und gibt auch für „Mitternacht 24/7“ Entwarnung: „Die Ausstellung wird kein Spukhaus sein. Es ist nicht unser Ziel, jemanden zu erschrecken.“



Merle Smalla und Luis Janßen von „Mitternacht 24/7“, einer interaktiven Ausstellung im Raum auf Zeit in Oldenburg
Zum Fürchten? Merle und Luis machen eigentlich einen sympathischen Eindruck. Und auch ihr Projekt „Mitternacht 24/7“ wird keineswegs eine Geisterbahn sein. (Bild: Kulturschnack)

Faszination Mitternacht


Ein Spukhaus wird es bei „Mitternacht 24/7" also nicht geben, um die Begegnung mit der Angst wird es aber durchaus gehen. Furcht kann ja ganz viele verschiedene Ebenen haben“, erklärt Merle. „Bei uns wird es aber nicht um Existenzängste gehen, sondern um den irrationalen Grusel, das man im Dunkeln spürt und der von der eigenen Fantasie verursacht wird.“ Sie selbst schaue gerne Horrorfilme und gehe auch gerne in Geisterbahnen, aber vor allen Dingen aus Studienzwecken. „Ich möchte beobachten, was Grusel in mir auslöst und wie Grusel funktioniert, vor allem wenn er ganz subtil ist.“


Das bedeute aber nicht, dass sie selbst vollkommen angstfrei sei. Im Gegenteil, in der Dunkelheit habe sie durchaus Angst - und überraschenderweise auch vor Masken, wie man sie etwa bei der Fasnacht sieht. „Das betrifft aber nicht diejenigen, die sich selbst anfertige“, schmunzelt sie. Ist ihre Kunst also eine Konfrontationstherapie? So weit will Merle nicht gehen. „Mich fasziniert die Ambivalenz der Furcht: Warum ängstigt uns das eine, das andere aber nicht - und beim nächsten ist es genau umgekehrt?“



Das Fürchten lernen: Im Jahre 1889 illustrierte H. J. Ford das Märchen aus Grimms Sammlung unter anderem mit diesen Bildern. (Bilder: Wikipedia, gemeinfrei)


Luis dagegen ist jemand, der erstmal ausziehen müsste, um das fürchten zu lernen: „Ich grusele mich nur selten. Gerade deshalb fände ich so ein Experiment ganz spannend, drei Nächte in einem Spukhaus zu verbringen.“ Die beiden 27-Jährigen bilden also die gesamte Bandbreite des Umgangs mit Ängsten ab und können sich daher umso besser in die Lage derjenigen versetzen, die in den kommenden Wochen ihre Ausstellung besuchen werden.



Fürchtet euch nicht

Und was erwartet sie bei „Mitternacht 24/7“? „Ich hoffe, dass sie vor allen Dingen überrascht werden und ein Format erleben, was sie gar nicht so richtig einordnen können, weil es sich mit nichts vergleichen lässt“, gibt Merle eine Antwort, die neugierig macht. Es sei ein Ausstellungsparcours in dem man Gestalten und Installationen begegne, der aber auch Interaktionen ermögliche. „Es wird tatsächlich auch viele kleine Überraschungen geben, man wird in dieser Ausstellung viel entdecken können - nicht zuletzt eine große Liebe zum Detail.“ Zudem werde es viele kleine Gags geben, berichtet Luis:


„Humor darf bei uns nie zu kurz kommen. Gerade bei so einem morbiden Thema wollen wir zeigen, dass man das alles gar nicht so ernst nehmen muss.“

Das gilt auch für die Auslegung des Begriffs „Ausstellung“, den man in der Baumgartenstraße 6 schon immer etwas weiter fassen musste. Auch beim Projekt „Fürchtet euch nicht“ von Die Loge vermischten sich viele verschiedene Elemente und Stile - und so ist es auch bei „Mitternacht 24/7“: „Man darf auf keinen Fall eine Ausstellung mit Exponaten und Beschriftungen erwarten“, betont Merle und ergänzt: „Es geht um das Gesamtkonzept. Auch wenn viele verschiedene Einzelkunstwerke zu sehen sind, ergeben sie letztlich ein großes Ganzes.“



Szene aus „Mitternacht 24/7“, einer interaktiven Ausstellung im Raum auf Zeit in Oldenburg
Der Niedergang als Attraktion: Die offensichtlichen optischen Mängel des Gebäudes erzeugen eine stimmungsvolle Kulisse für „Mitternacht 24/7“. (Bild: Kulturschnack)

Die Räumlichkeiten spielen dabei eher eine Haupt- als eine Nebenrolle. „Ich habe das Projekt geplant, bevor ich die Zusage hat“, verrät die freischaffende Künstlerin. „Ich hab die ganze Zeit gedacht: Oh Gott, wenn ich diesen Raum nicht bekomme, dann können wir das komplett vergessen!“ Doch die Sorge war unbegründet: Die Zusage kam - und so konnten Merle und Luis ihren Traum verwirklichen.



Vom Kindergarten zum Kunstprojekt


Ein Traum war es wirklich. Ewig hätten die beiden schon etwas zu dieser Geschichte machen wollen, verraten sie, aber es habe sich nie die richtige Gelegenheit ergeben. Und „ewig“ darf man hier fast wörtlich nehmen: Merle und Luis kennen sich nämlich schon seit dem Kindergarten. „Ursprünglich wollten wir einen Film oder ein Theaterstück machen“, blickt Merle zurück auf die Planungen. Doch die Räume in der Baumgartenstraße hätten sie dazu inspiriert, stattdessen eine Ausstellung zu realisieren. „Ziemlich schnell kam dann auch der Gedanke an Interaktivität hinzu.“ Das bedeute hier allerdings nicht, dass man gezwungen wäre, etwas auszulösen oder irgendwo mitzumachen. „Niemand muss, aber alle dürfen“, zerstreut Luis etwaige Befürchtungen. „Was interaktiv ist, wird erkennbar sein und unaufdringlich einladen.“


Die Kenntnis der Märchens ist für das Verständnis des Parcours übrigens nicht zwingend nötig, aber ein Vorteil. Man kann es entweder kostenfrei im Internet nachlesen - zum Bespiel hier - oder man geht direkt in die Ausstellung. Dort gibt es einerseits Inhaltsangaben, andererseits aber auch ein besonderes Feature: „Wir werden in den Räumen Audiospuren haben“, berichtet Merle. „Passagen des Märchens wurden von einem professionellen Sprecher eingesprochen und sind dort zu hören.“ Das Märchen vorab zu lesen sei also eher eine Kür als eine Pflicht.



Szene aus „Mitternacht 24/7“, einer interaktiven Ausstellung im Raum auf Zeit in Oldenburg
Große Sache: Merle und Luis nutzen die Räumlichkeiten voll aus, um einen fantastischen Parcours für euch zu entwerfen. (Bild: Kulturschnack)

Berührt vom Berühren


Aschenputtel, Dornröschen, Rotkäppchen: Märchen kennen wir alle, die meisten von uns verorten sie aber in der Kindheit. Dass sich die Beschäftigung mit den historischen Stoffen aber auch für Erwachsene lohnt, zeigt „Mitternacht 24/7“. „All die Geschichten existieren ja schon seit Jahrhunderten“, ordnet Luis ein. „Sie haben sich immer weiter verbeitet und sind in den Köpfen der Menschen geblieben. Allein deswegen lohnt sich die Auseinandersetzung.“ Das zeigt aktuell auch das Theater Laboratorium, das den Klassiker „Hänsel und Gretel“ auf seltsame Weise neu interpretiert.


Szene aus „Mitternacht 24/7“, einer interaktiven Ausstellung im Raum auf Zeit in Oldenburg
Place to be: Den Ausstellungsparcours „Mitternacht 24/7“ solltet ihr nicht verpassen. (Bild: Kulturschnack)

Es gebe jedoch auch Schattenseiten, betont Merle. „Märchen sind oft stereotypisch und klischeebehaftet und damit letztlich überholt.“ Am besten eigneten sie sich als Ansatzpunkt, um sie in einen zeitgeschichtlichen Kontext zu setzen und etwas Neues entstehen zu lassen - eben so, wie es bei „Mitternacht 24/7“ der Fall ist. „Die Menschen sollen sich in der Ausstellung auch nicht gruseln“, konkretisiert die junge Künstlerin. „Sie sollen vielmehr einen Umgang mit dem Gruseln finden.“ Dabei helfe auch die Interaktivität: Wenn man spüre, dass man die Fäden selber in der Hand halte, verlören viele Kreaturen ihre Bedrohlichkeit. „Der Protagonist des Märchens lernt eigentlich nicht so sehr das Fürchten, sondern das Fühlen. Das ist ein Grund, warum man die Sachen in der Ausstellung berühren darf: Um zu fühlen.“ Das sei ein ganz großes Ziel ihrer Arbeit:


„Ich möchte, dass Kunst distanzlos ist, dass man ihr ganz nahe kommt und dass man sie bewegen, erleben, anfassen kann. Ich hoffe, dass ich Leute mit meiner Kunst berühren kann, indem sie meine Kunst berühren können.“

Das wird in diesen Zeiten, in denen viele von uns in erster Linie kleine Glasflächen mit bunten Symbolen berühren, umso wichtiger. Deshalb schaut euch „Mitternacht 24/7“ an, taucht ein in eine gruselige Parallelwelt, lernt das Fürchten oder auch nicht, aber lasst euch vor allem berühren. Dafür ist Kunst da, darin liegt ihre Stärke - und ihr Sinn.


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