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NACH PERLEN TAUCHEN

Der Oldenburger Kunstverein drängt sich nicht auf. Beinahe wirkt es so, als verstecke sich sein Sitz am Damm hinter dem gelb-leuchtenden Augusteum. Doch das täuscht: Zwar ist der Verein schon 179 Jahre alt, seine Blickrichtung geht aber klar in die Zukunft. Er sucht und fördert junge Künstler:innen vor ihrem Durchbruch. Dabei traut er sich etwas, visuell und inhaltlich. Das zeigt auch die aktuelle Ausstellung „Notes On Radical Love“ von Lea von Wintzigerode. Sie ist nur noch bis zum 31. Juli zu sehen, also: Beeilung!


Weiß dominiert: Die Innenräume des okv bilden einen “White Cube“, der die Kunst in Szene setzt (Bild: Kulturschnack)

Großstadt. Dieser Gedanke kommt einem unweigerlich in den Sinn, wenn man das kleine Ausstellungshaus am Damm betreten hat. Denn obwohl es sich zwischen größeren Gebäuden duckt und von Außen eher klein wirkt, ist hier im Inneren alles anders. Die Architektur kreiert ein Raumgefühl, das man auch in großen Metropolen erwarten würde: großzügig, aufgeräumt, stylisch. Bemerkenswert für ein Gebäude, das selbst eigentlich so langsam museumsreif wird - und in etwa das Gegenteil dessen, was man erwarten würde, wenn man von außen nur die Dimensionen betrachtet.


Das Gebäude des Oldenburger Kunstvereins von vorn
Dezent: Der Kunstverein nimmt sich auch äußerlich zurück (Bild: Kulturschnack)

Frühe Chancen


Hier, an diesem zunächst unscheinbaren Ort, residiert der Oldenburger Kunstverein. Gegründet wurde er bereits 1843 und zählt damit zu den ältesten Kunstvereinen in Deutschland. Pro Jahr zeigt er zwei große Ausstellungen mit zeitgenössischer - sprich: aktueller - Kunst.


Dabei widmet er sich nicht etwa der Vergangenheit, schon gar nicht der eigenen. Nein, der Fokus liegt auf etwas ganz anderem: „Wir möchten vielversprechende, aufstrebende Künstler:innen zeigen, bevor sie bekannt oder gar berühmt werden“, erklärt Geschäftsführerin Marina Krause. Es gehe darum, aktuelle Trends in der Kunstentwicklung aufzuspüren und zu präsentieren. Mit Erfolg: Viele Talente, die zunächst beim okv ausstellten, sind heute etablierte Akteure in der Kunstszene, unter ihnen etwa der gebürtige Oldenburger Michael Beutler.


Von dieser mutigen, zukunftsorientierten Positionierung haben alle etwas: das Oldenburger Publikum, denn es hat die Chance, vielversprechende Künstler:innen zu sehen, bevor sie unsere Stadt vielleicht gar nicht mehr in Betracht ziehen würden. „Im Gegenzug profitieren aber natürlich auch die jungen Akteure, die zu diesem frühen Zeitpunkt ihrer Karriere natürlich Ausstellungen brauchen, um sich bekannt zu machen.“



Tiefgreifende Liebe


Seit Mitte Mai - und noch bis Ende Juli - ist nun „Notes On Radical Love“ von Lea von Wintzingerode zu sehen. Die 32-jährige Künstlerin ist eine jener hoffnungsvollen Talente, die sich sowohl ästhetisch als auch thematisch klar positionieren. Die gebürtige Bayreutherin beschäftigt sich mit feministischen und queeren Themen sowie mit Fragestellungen rund um zwischenmenschliche Beziehungen.


Der Titel der Ausstellung bezieht sich auf ein Konzept, das Liebe als andauernde soziale Beziehung versteht, die von allen Prozessen materiellen Lebens geprägt ist. Die Ausstellung lädt ein zu hinterfragen, was es bedeutet, in einer Gesellschaft zu l(i)eben, die von extremen Individualismus geprägt ist. Die Künstlerin kombiniert dabei Szenen und Ausschnitte, die auf persönlicher Erfahrung oder auf kollektiver Erinnerung basieren, mit Portraits von Personen der Underground-Musik und Pop-Kultur.


Eingangstür des okv, in der sich das Prinzenpalais spiegelt
Das Prinzenpalais lassen wir gegenüber liegen und tauchen ein in den okv (Bild: Kulturschnack)

Ästhetisch ist ihr Ansatz zunächst irritierend, zumindest fordert er uns zu einem zweiten und dritten Blick heraus. Denn der erste Eindruck scheint zu sein, dass die Bilder eiligst dahingemalt seien. Nicht ganz falsch, wie Marina erläutert. „Lea von Wintzigerode setzte bei ihrer Arbeit auf eine direkte Impulsivität. Das heißt, sie überreflektiert nicht, sie malt was sie sieht und fühlt, ohne vorher zu skizzieren.“ Man könnte also sagen: Kunst aus dem Bauch? Oder vielleicht eher: aus dem Herz?


„Das könnte man so sagen. Die Künstlerin teilt sich mit ihrem Werken dem Publikum mit“, erläutert Marina weiter. „Es täuscht aber, wenn man denkt, dass hier die Sorgfalt fehlt.“ Das Gegenteil ist der Fall: Die Werke offenbaren immer mehr Feinheiten, je mehr man sich ihnen nähert, sogar einzelne Pinselstriche werden sichtbar. Das liegt nicht zuletzt an der Technik: Lea von Wintzigerode trägt die verschiedenen Farbschichten in flüssigem Zustand auf eine liegende Leinwand auf - und durch das Trocknen verändern sich die Farben. Das Spiel mit dem Positionswechsel - mal ganz nah ran, mal ganz weit weg - ergibt hier tatsächlich immer wieder neue Entdeckungen und Erkenntnisse.



Lea von Wintzingerode ist 1990 in Bayreuth geboren. Sie studierte an der Akademie für Bildende Kunst, Wien. Später auch an der Hochschule für Bildende Künste, Hamburg. 2016 graduierte sie mit dem Master of Fine Arts. Sie lebt und arbeitet in Berlin



Lea von Wintzingerode setzt dabei auf Malerei und Collagen, sie beschränkt sich aber nicht darauf. Als Sounddesignern lässt sie gern auch eine akustische Ebene in ihre Ausstellungen einfließen. So auch im Kunstverein, wo plötzlich Klänge aus dem Nichts erschallen. Über zwei Kopfhörer kann man sich zudem intensiver mit den Klangwelten auseinandersetzen. Und damit nicht genug: Beim Ausstellungsaufbau entwickelte sich zudem ein temporäres Kunstwerk direkt auf einer “White Wall“ im hinteren Teil der Ausstellung.





„Notes on Radical Love“ zeigt einen vermeintlichen Widerspruch: die Radikalität steht für Intensität und Emotionalität, die Notizen aber für Beiläufigkeit und Flüchtigkeit. Beides könnte sich gegenseitig ausschließen. Oder aber es eröffnet zwei Ebenen, zwei Blickwinkel. Man wird herausgefordert, genau das zu erforschen - ohne dass diese Aufforderung jemals ausgesprochen würde. Es ist jedoch ein Experiment, dem man nicht mehr entgehen kann, sobald man den Titel kennt - und das ist spätestens in dem Moment der Fall, in dem man den okv betritt (siehe oben).


KONTEXT IST KING


Vielleicht eine übertriebene Behauptung. Immerhin wirkt Kunst manchmal gerade dann besonders stark, wenn man sie ganz unvoreingenommen betrachtet, ohne allzu viele Kenntnisse über Entstehung und Zusammenhänge. Oft bietet der Kontext aber durchaus eine zusätzliche Ebene der Einordnung und des Verständnisses. Und grundsätzlich immer sind diese Informationen interessant, um die Werke noch besser einordnen zu können.


Vom Rahmenprogramm. zur Ausstellung „Notes on Radical Love“ sind die meisten Termine zwar bereits gelaufen, einigen stehen aber noch an. Unser Tipp: Nutzt die Gelegenheit und lasst euch führen. Das nimmt Unsicherheit, bietet Orientierung und eröffnet - wie gesagt - zusätzliche Blickwinkel auf die ausgestellten Werke.



Donnerstag, 14. Juli 2022, 15 Uhr:

Kunst mit Kind


Samstag, 23. Juli, 16 Uhr

Reguläre Führung


Sonntag, 24. Juli, 11 Uhr

Digitale Führung


Nach Perlen tauchen


Aber wie findet man Künstlerinnen wie Lea von Wintzigerode? Die klingeln ja nicht einfach an der Haustür. „Man bewegt sich ständig in der Szene“, beschreibt Melanie den Prozess. „Wie besuchen Messen und Aussllungen, vor allem aber viele Galerien. Und wenn wir etwas entdecken, das ist unser Konzept passt, dann nehmen wir Kontakt auf.“ Eine besondere Rolle nimmt dabei die Vorstandsvorsitzende Gertrude Wagenfeld-Pleister ein, die sich in der Kunstwelt auskennt wie kaum jemand sonst. Von ihr profitiert der Verein - und damit auch Oldenburg.


Mit diesem Ansatz ist der Kunstverein immer wieder sehr erfolgreich, so dass er sich längst auch über die Stadtgrenzen hinaus einen Namen gemacht hat. Mehr vielleicht, als innerhalb davon? Die Vermutung wäre übertrieben, schließlich hat er auch in Oldenburg eine hohe Bedeutung und großes Renommee. Richtig ist jedoch, dass die Wahrnehmung nicht so groß ist, wie sie sein könnte. Erst Recht bei jenen Bevölkerungsgruppen, für die der Gang ins Museum nicht alltäglich ist.


Licht am Ende des Tunnels: Der hintere Teil der Ausstellung ist in eine andere Farbwelt getaucht (Bild: Kulturschnack)

Das hat nicht nur, damit zu tun, dass der Eingang unauffällig ist. „In Oldenburg gibt es eine starke öffentliche Museumslandschaft. Die Häuser der Stadt und des Landes decken eine große Bandbreite ab“, analysiert Marina. “Da ist es nicht immer leicht, als private Organisation Gehör zu finden.“ Zumal der Name „Kunstverein“ breite Interpretations-Spielräume zulässt. Dass die Alten Meister nicht etwa hier zu finden sind, sondern direkt nebenan. erschließt sich nicht von selbst. Das muss man wissen.



Kunst(verein) entdecken


Was ist der Kunstverein nun? Die Ausstellung „Notes On Radical Love“ deutet es an: Hier ist Raum für junge Kunst. Und jung heißt auch: mutig, experimentell, provokativ. Das kann bedeuten, dass man spektakuläre Werke zu sehen bekommt, die uns Betrachter:innen visuell mitreißen. Das kann aber auch bedeuten, dass sich die Werke erst auf den zweiten, dritten Blick erschließen und dass man sich deren Wirkungsebenen erst erschließen muss.


Lea von Wintzigerodes Ausstellung ist noch bis zum 31. Juli zu sehen. Nutzt die Zeit aus und schaut sie euch an. Vielleicht ist es nicht das Gefälligste, was ihr in euren Leben bisher gesehen habt. Ganz sicher aber werden die Bilder euch zu Gedanken provozieren. Das ist etwas, das dem Kunstverein seit jeher und immer wieder hervorragend gelingt - und was sich ebenfalls nach Großstadt anfühlt.






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