Nein, wir werden jetzt nicht dystopisch. Ganz im Gegenteil: Wir freuen uns sehr! Denn mit Tuan Andrew Nguyen ist aktuell ein Shooting Star der internationalen Kunstszene in Oldenburg zu sehen. In Kooperation mit dem Edith Russ Haus für Medienkunst zeigt der Gewinner des Joan Miro Preises 2023 im Pulverturm sein Werk „The Boat People“. Und das führt uns - genau! - ans Ende der Welt.
Keine Sorge: Wer beim Namens Tuan Andrew Nguyen gerade nicht sofort anerkennend die Augenbrauen gehoben, sondern eher die Stirn gerunzelt hat, ist damit nicht allein. Zwar ist der in Vietnam geborene, in den USA aufgewachsene, heute in Saigon lebende Künstler in der Szene bereits ein großer Name. Das bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass er jedem geläufig sein muss. Deshalb vertraut uns einfach: Dass wir ihn bzw. seine Arbeit hier in Oldenburg erleben dürfen- das ist alles andere als selbstverständlich.
Tuan nutzt ganz unterschiedliche Medien, um seinen künstlerischen - und auch politischen, gesellschaftskritischen - Überzeugungen Ausdruck zu verleihen. In Oldenburg ist von ihm nun ein sehr zugängliches Werk zu sehen, nämlich eine optisch und inhaltlich beeindruckende Videoinstallation. Obwohl das Setting des Filmmaterials fernöstlich-paradiesisch anmutet, hegt der Künstler nicht etwa touristische Motive. Vielmehr begegnen seine Protagonist:innen zahlreichen Symbolen des Untergangs. Geht es am Ende der Welt etwa um das Ende der Welt? Wir haben uns das für euch angeschaut.
EDITH RUSS HAUS FÜR MEDIENKUNST
TUAN ANDREW NGUYEN - THE BOAT PEOPLE
2. SEPTEMBER - 29. OKTOBER
FR 14-18 UHR
SA-SO 11-18 UHR
PULVERTURM SCHLOSSWALL 26122 OLDENBURG
Willkommen in der Surrealiät
Der Schritt durch die Tür des Pulverturm hinein ins runde Innere hat stets etwas Surreales an sich. Draußen tobt der Straßenlärm, herrscht hektische Betriebsamkeit. Drinnen? Das Gegenteil davon. Eine wohltuende Ruhe hüllt die Besucher:innen ein und heißt sie willkommen in einer urbanen Oase der Kultur. Das klingt leicht kitschig? Mag sein - aber genau so fühlt es sich an. Probiert es aus!
Gestört wir diese Ruhe lediglich von einem Element, nämlich dem großformatigen Screen, der den Raum von dessen Stirnseite aus dominiert. Er schafft einen modernen Kontrast zum historischen Backsteinmauerwerk und zieht die Blicke automatisch auf sich. Und das tut er zu Recht, denn was sich auf dem Schirm abspielt, will unbedingt gesehen werden.
Kleiner Raum, große Wirkung
Anders als etwa „All the Worlds Protests" von Ayo Akinwándé sind bei Tuans Ausstellung nicht Dutzende Monitore über das Gewölbe des Pulverturms verstreut, die im letzten Herbst ganz bewusst ein Überangebot an Eindrücken erzeugten. Stattdessen fühlt man sich an ein Kino erinnert - gäbe es nicht die alte Bausubstanz im Hintergrund. „Wir gehen jedes Jahr für zwei Monate in den Pulverturm und zeigen dort Videokunst“, berichtet Marcel Schwierin, der gemeinsam mit Edit Molnar das Edith Russ Haus leitet. Ihm sei bewusst, dass hier viel Laufpublikum vorbeikomme, das vielleicht nicht erst drei Zettel lesen wolle, bevor es in die Ausstellung einsteige. „Deshalb suchen wir Arbeiten aus, die sich relativ leicht vermitteln lassen und die man relativ schnell erfassen kann.“
Dabei entstehe häufig ein positiver Nebeneffekt: „Natürlich kommen auch viele Leute wegen des Pulverturms. Die wollen den einfach mal von innen sehen“, ist sich Marcel bewusst. Aber:
„Dann werden sie plötzlich mit zeitgenössischer Kunst konfrontiert, ohne das erwartet zu haben. Sie entdecken sie ohne große Vorbereitung, ohne vorher viel nachgedacht zu haben, sondern einfach als spontane Begegnung. Das ist ein wunderbarer Moment.“
Untergang im Paradies
Genau diese Gelegenheit bietet nun „The Boat People“ von Tuan Andrew Nguyen. Das Story-Setup ist im Grunde simpel: Eine Gruppe von fünf Kindern kommt mit einem Boot auf einer tropischen Insel an, die früher als Bataan bekannt war. Wo genau diese liegt, ist nicht ganz klar. Naheliegend wäre das Heimatland des Künstlers, nämlich Vietnam. Tatsächlich lassen sich aber auch Hinweise auf Kambodscha und die Philippinen finden. Nehmen wir deshalb einfach mal an, der Schauplatz sei eine panasiatische Fiktion, von uns aus gesehen (fast) am anderen Ende der Welt.
Der genaue Ort spielt letztlich aber sowieso nur eine Nebenrolle, denn Tuan behandelt größere Themen als Geographie. Die Gruppe entdeckt auf der Insel nämlich Reste einer untergegangenen Zivilisation - ganz so wie es einst den Kolonialmächten ging, als sie in Südostasien Relikten der Khmer- und Cham-Kulturen begegneten. Schnell stellt sich heraus, dass die Kinder nicht bloß einen Ausflug machen, sondern sich in einer besonderen Situation befinden und anders auf die Funde reagieren, als man zunächst vermuten würde. Zudem umgibt das einzige Mädchen der Gruppe ein großes Geheimnis.
NEXT BIG THING? TUAN ANDREW NGUYEN Nein, als Nachwuchskünstler geht Nguyen nicht mehr durch. Mit Jahrgang 1976 gehört er mittlerweile zur Generation der Etablierten bzw. den Mid Career Artists. Und auch die Liste an Werken und Ausstellungen besitzt mittlerweile eine epische Länge. Und dennoch befindet sich seine Karriere aktuelle an einem Wendepunkt.
Nguyen wuchs in einer vietnamesischen Einwanderungsfamilie in Kalifornien auf, was seine spätere künstlerische Inspiration stark prägte. Er absolvierte ein Kunststudium an der University of California in Irvine. Während seiner Studienzeit begann er, sein Talent für visuelle Kommunikation und politische Botschaften zu entwickeln.
Eine bedeutende Wende in Nguyen's Karriere kam, als er das Künstlerkollektiv "The Propeller Group" gründete. Dieses Kollektiv setzte sich aus Gleichgesinnten zusammen und verfolgte das Ziel, Kunst als Mittel zur Erforschung gesellschaftlicher Fragen zu nutzen. Gemeinsam schufen sie innovative und provokante Arbeiten, die in der zeitgenössischen Kunstszene Aufmerksamkeit erregten. Nguyen's Werk zeichnet sich durch seine Vielseitigkeit aus. Er nutzt verschiedene Medien wie Video, Installation und Malerei, um seine Botschaften zu vermitteln. Eine seiner bekanntesten Arbeiten ist die Videoinstallation "The Living Need Light, The Dead Need Music", die 2014 auf der Biennale in Venedig präsentiert wurde. Das Werk erforscht die vietnamesische Bestattungskultur und die Verbindung zwischen Leben und Tod.
Über die Jahre hinweg wurde Tuan Andrew Nguyen für seine künstlerischen Leistungen mehrfach ausgezeichnet und seine Werke in angesehenen Galerien und Museen weltweit ausgestellt. Seine Kunst ermutigt dazu, über die Grenzen von Kultur und Identität nachzudenken und reflektiert die Erfahrungen von Menschen, die wie er selbst zwischen verschiedenen Welten navigieren.
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Der Künstler wirft mit der Arbeit nicht zuletzt einen Blick auf die Geschichte seines Heimatlandes. „Die Kolonialmächte haben in Südostasien die Kulturen zerstört, die sie vorgefunden haben“, blickt Marcel zurück.
„Deshalb kennen die Menschen oft ihre eigene Geschichte nicht mehr, sondern nur diejenige Version, die von den Kolonialherren erzählt wurde - also die Geschichte der Herrschenden über die Beherrschten.“
Darum gehe es häufig in Tuans Arbeiten. Mit sehr viel künstlerischer Kreativität und Phantasie entwerfe er Szenarios, wie es hätte sein können. „Tuan versucht nicht, die Vergangenheit wissenschaftlich zu rekonstruieren, sondern künstlerisch.“
Das geschehe mit einer außergewöhnlichen Kameraarbeit und außergewöhnlichen Bildern, die eine hohe Zugänglichkeit erzeugen. „Man merkt, dass Tuan nicht weit von Hollywood entfernt gelernt hat. Ihm sind die die klassischen Formen der Narration und die Erzähltraditionen des Kinos sehr vertraut“, ordnet Marcel ein. Tuan schaffe es, Arbeiten zu entwerfen, die zwischen Mainstream-Erzählungen und rein künstlerischen Werken anzusiedeln seien. „Diese sind sehr viel bildhafter als vieles andere, was man in der Medienkunst sieht.“
Wunderbare Zusammenarbeit
Nicht nur die Videoinstallation selbst ist beeindruckend, auch die Vorgeschichte zur Ausstellung ist eine Erzählung wert. „Wir kennen Tuans Arbeit von schon eine Weile“, berichtet Marcel. „Auf der diesjährigen 12. Berlin Biennale hat er dann zwei Installationen gezeigt, die Edit und mich - übrigens unabhängig voneinander - total begeistert haben.“ Daraufhin zögerte das Führungsduo nicht lang und fragte beim Künstler an, ob er sich vorstellen könne, eine Auftragsarbeit in Oldenburg zu realisieren. „Diese Arbeit ist beantragt. Wenn alles gutgeht, wird sie 2024 im großen Haus gezeigt “ macht Marcel Hoffnung auf ein großes Nguyen-Projekt. Schmunzelnd ergänzt er: „Jetzt zeigen wir gewissermaßen eine Vorspeise.“
Man spürt dem Kurator seine Freude über den Coup an. Die Kontaktaufnahme mit dem Künstler war ein Wagnis, das sich bezahlt machte. „Uns war klar, dass Tuan als Künstler schon so bedeutend ist, dass es schwer werden würde, ihn nach Oldenburg zu holen.“ Er habe dann aber nicht nur positiv auf die Anfrage reagiert, er sei von Berlin aus auch gleich nach Oldenburg gekommen.
„Tuan ist nicht nur ein sehr bedeutender Künstler, er ist auch ein sehr netter, umgänglicher Mensch, der sehr kreativ denkt und sofort neue Möglichkeiten auslotet. Insofern war schon die erste Zusammenarbeit mit ihm ganz wunderbar.“
Der richtige Zeitpunkt
Vielleicht ist dies genau die richtige Strategie für eine Stadt wie Oldenburg: Den „Sweet Spot“ einer Künstler:innenkarriere zu erwischen, an dem es bereits einige Erfolge gibt - die aber noch nicht so groß sind, dass sie allein den Kunstmetropolen vorbehalten bleiben. „Ja, das ist so ein bisschen unser Feld“, bestätigt Marcel. Man wolle keine Anfänger präsentieren, weil das Publikum in Oldenburg nach Leuten suche, deren Arbeiten bereits Hand und Fuß hätten. „Wir sprechen dabei von ‘Mid Career Artists'. Das sind Leute, die schon ein Oeuvre haben, aber eben noch nicht ganz da angekommen sind, wo sie irgendwann ankommen werden.“
Genau diesen Eindruck habe man auch bei Tuan gehabt. Entscheidend sei aber letztlich etwas anderes gewesen:
„Die Bilder, die er gemacht hat, die Geschichten, die erzählt hat - die haben uns einfach restlos begeistert. Das passiert, ehrlich gesagt, in dieser Intensität nicht so oft!“
Und wie war es, als er nach Oldenburg kam? Welche Eindrücke hat er gewonnen? „Man hat schon gespürt, dass er erstmal gekommen war, um zu checken, was für eine Atmosphäre er hier vorfindet“, gewährt uns Marcel einen Einblick. Die erste Zeit habe er überhaupt nichts gesagt, sondern einfach nur zugehört. Irgendwann aber habe er eine Lust entwickelt, hier was zu machen. „Dann sprudelten Ideen nur so aus ihm heraus - und ich glaube, da hat ihm auch Oldenburg gut gefallen. “
Erst New York, dann Oldenburg
Oldenburg kann sich glücklich schätzen. Dank der Initiative von Edit Molnar und Marcel SchwIerin dürfen wir in Oldenburg das Werk eines Künstlers sehen, der in diesem Jahr ansonsten in Stockholm, Glasgow und New York ausgestellt hat. Bei allem Oldenburger Selberbewusstsein: Nguyen spielt normalerweise in einer anderen Liga. Umso bemerkenswerter dieser Erfolg.
Es geht aber nicht hur um den großen Namen. Der Besuch der Ausstellung lohnt sich vor allem wegen der Videoinstallation selbst. Der Film ist handwerklich auf hohem Niveau produziert, er entführt uns an einen magische Ort und er stellt große philosophische Fragen. Mehr Inspiration kann man in 45 Minuten kaum bekommen - erst recht nicht gratis im Vorbeigehen.
Wobei man offen feststellen sollte: “The Boat People“ ist nur eine Andeutung dessen, was noch kommt, wenn es mit der Ausstellung im Edith-Russ-Haus klappen sollte. Das würde ein Pflichttermin für alle kulturinteressierten Menschen in Oldenburg - und für alle anderen auch. Eben weil Nguyen große Themen künstlerisch anspruchsvoll behandelt - es gleichzeitig aber schafft, sie zugänglich zu gestalten. Und wenn man trotz allem keinen rechten Zugang zur Materie findet? Keine Sorge: Das ist nicht das Ende der Welt.
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