top of page

STAATSAKT #3: WILD & LEISE

  • kulturschnack
  • 14. Nov. 2024
  • 8 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 8. Jan.

Das Oldenburgische Staatstheater ist das Flaggschiff der Oldenburger Kulturlandschaft. Sein Output allein würde unsere Stadt schon zu einer Theatermetropole machen. Um halbwegs den Überblick zu behalten, gibt es nun den Kulturschnack Staatsakt. Hier treffen wir uns mit den Akteur:innen und sprechen mit ihnen über Premieren, Projekte, Persönliches. Das ist Theater - im Rampenlicht und hinter den Kulissen!


Die Säulen des Oldenburgischen Staatstheaters in Oldenburg, Schauplatz des Kulturschnack Staatsakt
Dürfen wir bitten? In der dritten Folge des Kulturschnack Staatsakt dreht sich alles ums Ballett. (Bild: Stephan Walzl)

Mit Ballettabenden ist es so eine Sache. Die einen fiebern regelrecht darauf hin, voller Vorfreude auf die einzigartige Kombination aus Kraft und Eleganz, aus Bewegung und Poesie. Und die anderen? Erleben leichte Stressmomente, denn sie fragen sich: Muss ich verstehen, was ich sehe? Und was ist, wenn nicht? Wenn ich keine Handlung erkenne, der ich folgen könnte? Und wenn ich überhaupt nicht einschätzen kann, ob die Darbietung mittelmäßig oder meisterhaft ist? Bin ich dann ein Ballett-Banause?


Warum diese Sorgen vollkommen unnötig sind, zeigt derzeit der gut zweistündige Ballettabend „wild & leise“ im Oldenburgischen Staatstheater. Und noch deutlicher wird es in unserem Gespräch mit Carolina Francisco Sorg. Die erfahrene Ballettmeisterin hat uns erklärt, warum Ballett einer nie endenden Suche gleicht, wie die Tänzer:innen sich die komplexen Abläufe merken und warum das Publikum seiner Fantasie freien Lauf lassen sollte. Was eine Ballettmeisterin überhaupt ist, fragt ihr euch? Auch das erfahrt ihr im KULTURSCHNACK STAATSAKT Nummer 3.


 

OLDENBURGISCHES STAATSTHEATER


WILD & LEISE

VIER CHOREOGRAFIEN VON ANTOINE JULLY UND BARAK MARSHALL


FR 15. NOVEMBER (TICKETS) DO 28. NOVEMBER (TICKETS) FR 6. DEZEMBER (TICKETS)

SA 14. DEZEMBER (TICKETS) SA, 21. DEZEMBER (TICKETS)

SA. 28. DEZEMBER (TICKETS) FR 3. JANUAR (TICKETS)

MI 8. JANUAR (TICKETS)


BEGINN: JEWEILS 19.30 UHR

30 MINUTEN VOR DEN VORSTELLUNGEN GIBT ES EINE KURZE STÜCKEINFÜHRUNG IM GLASHAUS


GROßES HAUS

26122 OLDENBURG


 


D R I T T E R S T A A T S A K T


E R S T E R A U F T R I T T


Ein abgedunkelter Raum im Probengebäude am Vormittag, nur spärlich fällt blasses Tageslicht durch Lücken in den Vorhängen. Auf dem nachtschwarzen Boden sind farbige Markierungen für Positionen zu erkennen. Zwei Kultur-Redakteure sind noch damit beschäftigt, verschiedene Kameras auf Stative zu montieren und Mikrofone zu testen.


Portrait von Nora Hecker, Dramaturgin von WALD am Oldenburgischen Staatstheater in Oldenburg
Zu Gast in der Black Box: Ballettmeisterin Carolina Francisco Sorg erklärte uns, was das Unwiderstehliche an Ballettabenden wie „wild & leise“ ist . (Bild: Kulturschnack)

THORSTEN (zum Gast eilend) Carolina, schön dass du da bist! Sorry, dass du noch kurz warten musst.


CAROLINA Kein Problem, mein Training beginnt erst in einer Stunde.


THORSTEN Super, wir sind bestimmt schon nach einer halben durch!


KEVIN (aus dem Hintergrund) Geht gleich los!



(Carolina und Thorsten setzen sich an einen alten, kleinen Holztisch in der Mitte des vollständig schwarzen Raums. An den Kameras werden die Aufnahmen gestartet. Das Gespräch beginnt)



THORSTEN  Carolina, du bist seit der Spielzeit 2014/15 Ballettmeisterin am Oldenburgischen Staatstheater. Da muss ich gleich schon mal nachhaken: Was macht denn eine Ballettmeisterin?


CAROLINA  Meine Hauptaufgabe ist das Training. Die Ballett Compagnie trainiert jeden Morgen eine Stunde und zwanzig Minuten und oft bin ich dafür verantwortlich. Aber nicht immer, denn es gibt mit Keiko Oishi eine weitere Ballettmeisterin und auch der Chefchoreograph Antoine Jully gibt ab und zu das Training. Zudem leite ich Proben und achte darauf, dass alles stimmt, alles zusammenpasst und jeder weiß, was zu tun ist.


THORSTEN Wie hast du denn das Ballett für dich entdeckt? Was fasziniert dich daran?


CAROLINA Ich war sieben Jahre alt, als ich in meiner Heimatstadt Limeira in Brasilien angefangen habe mit dem Ballett, und es war rein zufällig. Meine Mutter hat mich eines Tages gefragt, ob ich genau wie meine Cousine zum Ballett gehen möchte. Und ich sagte: Ja, gerne! Meine Cousine hat nach zwei Jahren aufgehört und ich bin immer noch da. (lacht)


Was mich besonders fasziniert, ist die Verbindung zur Musik und diese nie endende Suche. Beim Ballett ist man nie fertig und es ist nie genug. Ja, es ist schwierig, aber das macht es auch spannend.

Szene aus dem Schauspiel „WALD“ von Miriam Lesch am Oldenburgischen Staatstheater in Oldenburg
Perfekt abgestimmt: Die Entwicklung von Ballett-Choreographien ist durchaus schwierig. Dem Ergebnis merkt man die Strapazen aber nicht an. (Bild: Stephan Walzl)

THORSTEN  Es gibt ja das Klischee, dass man Ballett entweder abgöttisch liebt oder dass man sich nicht im Geringsten dafür interessiert. Stimmt das eigentlich? Oder gibt es da auch eine Grauzone?


CAROLINA  Ich bin vielleicht nicht die beste Person, um das zu beurteilen. (schmunzelt) Aber wenn ich darüber nachdenke, fallen mir durchaus einige Menschen ein, die unsere Tanzvorstellungen besucht haben und denen es gefallen hat, für die es aber nicht gleich die größte Liebe war. Also ich denke schon, dass es eine „Mittelschicht“ gibt.



Eindringlich, nachdenklich, humorvoll: In unserem kurzen Gespräch haben wir Carolina in vielen Facetten erlebt. (Bilder: Kulturschnack)


THORSTEN Für die ist sicher auch das aktuelle Stück „wild & leise“ etwas. Der Titel erscheint auf den ersten Blick ja ein wenig widersprüchlich. Warum ist das Stück wild und warum ist es leise?


CAROLINA Es spiegelt wider, wie die Menschen so sind und wie das Leben so ist. Es herrscht ja immer eine große Wildheit, deswegen braucht man auch leisere Momente. Die leisesten Momente wiederum können durchaus wild sein. Also ich finde: Ja, das ist widersprüchlich, aber auch ergänzend. Das Publikum erlebt in rund zwei Stunden (inkl. Pause) insgesamt vier Choreographien, die von der Tanzsprache, der Stimmung und von der Besetzung her sehr verschieden sind. Es gibt zwei große Stücke mit der ganzen Compagnie, dazu zwei kleinere, davon ein Solo und ein Duett. Variantenreich ist auch die Musik, die von Guillaume Connesson bis Asaf Avidan reicht. Das Spektrum ist in jeder Hinsicht sehr breit.





THORSTEN Es ist nicht untypisch für einen Ballett-Abend, dass es mehrere kleine „Häppchen“ gibt. Warum ist das eigentlich so?


CAROLINA Das muss natürlich nicht so sein. Meist kann man auf diese Weise aber mehr Vielfalt und Abwechslung bieten. Außerdem ist für eine kleine Compagnie wie unsere ein durchgehendes Handlungsballett schwieriger zu realisieren. Deswegen gibt es oft sogenannte „Triple Bills“ mit drei Stücken oder - wie in diesem Fall - sogar vier Choreographien an einem Abend. Der Trend geht seit etwa fünfzehn Jahren in diese Richtung. Zum einen, weil Handlungsballette sich - wie erwähnt - mit wenigen Menschen etwas schwieriger gestalten. Zum anderen aber auch, weil man auf diese Weise mehrere Choreografen sehen kann. Bei „wild & leise“ sind es beispielsweise zwei, denn drei Stücke stammen von Antoine Jully und eine von Barak Marshall. Das Publikum sieht und erfährt einfach ein bisschen mehr.


STARKES THEATERPROGRAMM DIE GROßE VIELFALT Mit dem KULTURSCHNACK STAATSAKT starten wir ein regelmäßiges Interview-Format mit dem Oldenburgischen Staatstheater. Ihr fragt euch, warum wir das tun? Nun: Dafür gibt es genau 164 Gründe.

Das Spielzeit-Heft des Oldenburgischen Staatstheaters in Oldenburg

Das ist nämlich die Zahl der Seiten des aktuellen Spielzeitheftes des Oldenburgischen Staatstheaters. Es ist prall gefüllt mit dem äußerst facetten- und variantenreichen Programm der insgesamt sieben Sparten. So gibt es in der kommenden Spielzeit 4 Uraufführungen und 32 Premieren, dazu 7 Wiederaufnahmen und unzählige weitere Attraktionen. Und selbst das ist noch nicht alles. Zwischen und außerhalb von Oper, Schauspiel oder Konzert finden viele weitere Projekte statt. Das Staatstheater schreibt weiter an seiner eigenen Geschichte - und damit auch jener der Stadt. Angesichts dieser Opulenz haben wir uns dazu entschieden, dem Staatstheater regeläßig einen Besuch abzustatten. Gemeinsam suchen wir nach spannenden Gästen, Themen und Geschichten für den KULTURSCHNACK STAATSAKT. Was ihr davon habt? Einen spannenden Einblick in die Theaterwelt und mehr Informationen darüber, was die Menschen dort bewegt.


THORSTEN Obwohl der Abend auf diese Weise in vier Kapitel aufgeteilt ist, bleibt er für die Tänzer:innen eine große Herausforderung. Zumindest wir Laien denken uns: Die müssen sich eine Abfolge an unzähligen Bewegung merken, wie schaffen die das nur?


CAROLINA Ja, das fragt jeder. Das ist lustig. (schmunzelt) Aber wenn die Bewegungen erstmal gelernt und sozusagen in den Körper gespeichert sind, dann hält es auch länger als man denkt und man muss nicht immer alles neu denken.


Vieles läuft dann automatisch ab, weil die Informationen in einem Teil des Gehirns gespeichert sind, von wo aus der Körper sie fast alleine abruft.

Aber ja, der Prozess ist am Anfang sehr schwierig, vor allem während des Lernens. Aber danach geht es, weil alles fest im Körper verankert ist und in Verbindung mit Musik wird es auch leichter. Manchmal denkt man: „Oh, ich kann mich gar nicht mehr erinnern.“ Aber dann spielt die Musik und man spürt: Doch, doch, doch.



Die Kunst der Bewegung: „wild & leise“ zeigt zeitgenössisches Ballett in vielen unterschiedlichen Facetten. (Bilder: Stephan Walzl)


THORSTEN Du hast ja gerade unterschieden zwischen Handlungsballett und den kleineren, kürzeren Choreographien. Gibt es bei denen denn auch eine Handlung? Oder würde ich als Zuschauer:in vergeblich danach suchen?


CAROLINA Eine klassische lineare Erzählung gibt es nicht, aber es gibt eine Thematik und es gibt natürlich immer Gefühle. Auf dieser Basis kann man unendliche Geschichten für sich selbst kreieren. Innerhalb der Proben erschaffe ich für mich selber auch Geschichten, die vom Choreografen vielleicht gar nicht so gedacht sind, weil er nicht alles durchspricht, was in seinem Kopf vorgeht. Das gibt auch den Tänzer:innen die Freiheit, das zu interpretieren. Und wenn man im Publikum sitzt und sich darauf einlässt, dann kann man unendliche Geschichten daraus machen.


THORSTEN  Also kann man sagen: Nur Mut, lasst eurer Fantasie freien Lauf, wenn ihr im Ballett sitzt. Es ist alles in Ordnung, was ihr euch vorstellt.


CAROLINA  Ganz genau.


Die Leute haben diese Sorge: Ist es richtig, was ich gedacht habe? Aber das ist nicht, was wesentlich ist. Wesentlich ist, dass man etwas daraus mitnimmt und dass es was mit einem macht. Ob die eigene Idee jetzt stimmt oder nicht, das ist nicht wichtig.

Szene aus dem Schauspiel „WALD“ von Miriam Lesch am Oldenburgischen Staatstheater in Oldenburg
What's the story? Die vier Choreographien haben keine lineare Handlung, es gibt aber Themen - und große Gefühle. (Bild: Stephan Walzl)

THORSTEN Das ist bestimmt für viele schön zu hören, dass man sich da den Druck nehmen und einfach mal genießen kann. Was mir übrigens aufgefallen ist: Wenn man sich die Besetzung von „wild & leise“ anguckt, dann sieht man ganz viele internationale Namen - wie zum Beispiel Martina Di Giulio, Garance Vignet, Lester René González Alvarez, Seu Kim oder Diego Urdangarin. Stimmt etwa das Klischee, dass wir Deutschen nicht gut tanzen können?


CAROLINA Das würde ich nicht behaupten. Aber es ist wahr, dass wir sehr wenige deutsche Bewerbung bekommen. Wirklich sehr wenige. Von Hunderten sind es vielleicht zwei oder drei.


THORSTEN Okay, damit ist es amtlich: Wir Deutschen können nicht tanzen!


Portrait von Nora Hecker, Dramaturgin von WALD am Oldenburgischen Staatstheater in Oldenburg
Charmant und charismatisch: Carolina weiß für ihr Herzensthema Ballett zu begeistern. (Bild: Kulturschnack)

CAROLINA Ich denke nicht, dass sie es nicht können. Ich denke, dass es oft auch mit einem gewissen Pragmatismus zu tun hat. Manche sagen sich eben: „Oh mein Gott, so viel Arbeit für so wenig Geld. Und mit 35 oder maximal 40 Jahren ist die Karriere schon zu Ende. Will ich das wirklich?“ Ich denke, die Deutschen sind vielleicht etwas rationaler als andere. Ich hatte früher aber durchaus deutsche Kolleginnen und Kollegen, die getanzt haben, sie existieren also! (lacht) Aber im Moment zumindest bekommen sehr wenige Bewerbungen.


THORSTEN Wer sich also berufen fühlt, eine Tanzkarriere einzuschlagen, hat als Deutsche:r auf jeden Fall einen Exot:innenbonus sicher. (beide lachen) Letzte Frage, Carolina: Wenn du einen Tag voller Training und Proben hinter dir hast und ich frage dich abends, ob du noch Lust hast, mit ins Ballett zu gehen: Was würdest du antworten?


CAROLINA Kommt drauf an! Wenn ein gutes Programm gespielt wird, dann: Ja!



Alle: ab.


 

Parabel auf das Leben


Mit Ballettabenden ist es tatsächlich so eine Sache. Weiterhin wird es so sein, dass die einen sie abgöttisch lieben und dass sie den anderen herzlich egal sind. Aber gerade, wenn man sich zur letzteren Gruppe zählt, sollte man seine Haltung vielleicht noch einmal überdenken. Der Tanz bietet so vieles, was uns bewegen und beeindrucken kann: Die mal kunst-, mal kraftvollen Bewegungen, das dynamische Zusammenspiel im Ensemble und mit der Musik sowie die Choreographien in ihrer Gesamtheit als Parabel aufs Leben und als Projektionsfläche für die eigenen Gedanken. Das sollte man einfach nicht verpassen.



Wie sieht eigentlich Ballett-Training aus? Das Oldenburgische Staatstheater gibt hier einen Einblick - mit Carolina Francisco Sorg.

Und wer jetzt immer noch die eingangs erwähnten Sorgen in sich trägt und befürchtet, als Ballett-Banause dazustehen, darf beruhigt sein: Wir Kulturschnacker sind auch nicht im Tutu aufgewachsen und können bis heute keine Figur beim Namen nennen. Haben wir trotzdem Spaß am Ballett? Aber ja! Weil es immer eine Facette oder Ebene gibt, die einen regelrecht begeistert. Und wer ganz genau nachempfinden will, warum das so ist - besucht einfach „wild & leise“.

bottom of page