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DIE PIRATENREPUBLIK

  • kulturschnack
  • vor 2 Tagen
  • 7 Min. Lesezeit

Aktualisiert: vor 11 Stunden

Mit Piraten verbinden wir säbelschwingende Schurken, die Handelsschiffe ausrauben, Küstenstädte überfallen und bei jeder Gelegenheit ihre Beute in Rum investieren. Regeln und Gesetze? Fallen und in diesem Zusammenhang eher nicht ein. Warum das falsch ist, zeigt jetzt die „Piratenrepublik“ am Oldenburgischen Staatstheater. Sie krempelt unser Bild von Piraten um, versetzt es in die Gegenwart - und zeigt nebenbei, zu welch großen Experimenten Theater in der Lage ist.


Die ultimative Freiheit? Mit dem Piratenleben gehen einige Klischees einher. Es dürfte aber etwas anders gewesen, als Burt Lancaster uns in „Der rote Korsar“ vermittelt hat. (Bild: Warner Brothers)
Die ultimative Freiheit? Mit dem Piratenleben gehen einige Klischees einher. Es dürfte aber etwas anders gewesen, als Burt Lancaster uns in „Der rote Korsar“ vermittelt hat. (Bild: Warner Brothers)

Nein, die berühmte Totenkopf-Flagge „Jolly Roger“ - seit jeher das Erkennungssymbol der Piraten - wird an der Exerzierhalle nicht gehisst. Hier ist niemand auf Kaperfahrt oder Schatzsuche, es gibt kein Säbelrasseln oder Kanonendonner. Stattdessen sind andere Dinge zu entdecken: Wahlplakate, Spitzenkandidatinnen, Parteilogos. Alles wirkt, als wäre man in einer Wahlarena gelandet. Und doch steht da „Piratenrepublik“ auf dem Spielplan. Rätselhaft.


Was nur, fragt man sich, haben Pirat:innen mit Politik zu tun? Warum gibt es in der Exhalle keine kostümierten Taugenichtse? Ganz einfach: Weil es nicht um die Klischees der Geschichte geht, sondern um die Realität der Gegenwart. Im Hier und Jetzt spielen Freibeuter:innen eben keine große Rolle mehr - was aber nicht bedeutet, das sie nicht trotzdem als Vorbild dienen könnten. Ganz im Gegenteil - wie der Anthropologe David Graeber herausgefunden hat und wie nun im Oldenburgischen Staatstheater zu sehen sein wird.



 

OLDENBURGISCHES STAATSTHEATER


PIRATENREPUBLIK


FREI NACH DAVID GRAEBERS „PIRATEN - DIE SUCHE NACH DER WAHREN FREIHEIT“


DO 17. APRIL 20 UHR (TICKETS)

MI 23. APRIL 20 UHR (TICKETS)

FR 25. APRIL 20 UHR (TICKETS)

DO 22. MAI 20 UHR (TICKETS)

MO 26. MAI 20 UHR (TICKETS)

MI 28. MAI 20 UHR (TICKETS)

DO 29. MAI 20 UHR (TICKETS)

MO 02. JUNI 20 UHR (TICKETS)

MI 04. JUNI 20 UHR (TICKETS)

FR 06. JUNI 20 UHR (TICKETS)

EXHALLE

26121 OLDENBURG


 

Rebellen mit Kultur


Eine eigene Republik ausrufen? Ausgerechnet mit Piraten als Vorbild? Und das auf bundesdeutschem Grund und Boden? Wo es bestimmt eine Verordnung gibt, die solche Umtriebe strengstens untersagt? Darauf muss man erstmal kommen!


Gedanklicher Ausgangspunkt: Das Buch von David Graeber. (Bild: Klett-Cotta Verlag)
Gedanklicher Ausgangspunkt: Das Buch von David Graeber. (Bild: Klett-Cotta Verlag)

Genau das war aber bei Lukasz Lawicki und Reinar Ortmann der Fall. Der Regisseur und der Leitende Schauspieldramaturg des Oldenburgischen Staatstheaters waren gleichermaßen fasziniert vom Buch „Piraten - Die Suche nach der wahren Freiheit“ des amerikanischen Anthropologen David Graeber. Darin beschäftigt sich der inzwischen verstorbene Autor mit historischen Berichten über eine basisdemokratische, egalitäre Piratenrepublik auf Madagaskar im 18. Jahrhunderts. Zur Erinnerung: Im vermeintlich aufgeklärten, fortschrittlichen Europa waren Freiheit und Mitbestimmung damals noch ein exklusives Luxusgut für die Reichen.


Graebers Gedanken verändern den Blick auf die Geschichte. Plötzlich erscheinen Piraten nicht mehr als Haufen wilder, ungebildeter Vagabunden, die sich um nichts anderes scheren als sich selbst. Sie erscheinen als progressive Vorreiter, als Rebellen mit eigener Kultur. Sollte stimmen, was Graeber zusammentrug, dann wären die raubeinigen Seefahrer:innen plötzlich nicht mehr nur gesetzlose Halunken, sondern beinahe schon eine Art Helden. Was für eine Geschichte!



Machtspiele und Memes


Trotzdem gibt es in der Exhalle keine Holzbeine und Augenklappen zu entdecken. Dem Staatstheater gehe es bei dem Stück nicht um eine Reproduktion der historischen Piratenrepublik, erklärt Lukasz. „Sie ist eher der gedankliche Ausgangspunkt. Wir interessieren uns für den Moment, in dem Menschen sich zusammentun, um eine andere Form von Gesellschaft zu erproben – jenseits von Monarchie und Machtkonzentration.“ Die Protagonist:innen im Stück seien keine Seeräuber:innen, sondern Suchende. „Sie haben eine Idee von Freiheit, aber sie geraten schnell in Machtspiele und Selbstinszenierung. Es geht um die Frage: Was passiert, wenn Utopie auf Realität trifft?“


Grenzen sprengen, Erwartungen brechen: Regisseur Lukasz Lawicki hat Spaß an ungewöhnlichen Theaterformaten. (Bild: ***)
Grenzen sprengen, Erwartungen brechen: Regisseur Lukasz Lawicki hat Spaß an ungewöhnlichen Theaterformaten. (Bild: ***)

Aus dem Stoff wurde aber nicht etwa ein klassisches Schauspiel, sondern ein spektakuläres Theaterevent, das die zeitlichen und räumlichen Grenzen eines üblichen Theaterabends sprengt. Die „Piratenrepublik“ begnügt sich nämlich nicht damit, auf der Bühne eine Geschichte zu erzählen. Stattdessen entwarfen Lukasz und sein Team die - vorläufig fiktive - „Freie Piratenrepublik Oldenburg“, die vor einer Stichwahl um die Präsidentschaft und damit einer Richtungsentscheidung zwischen libertär und liberal steht. Die Konzeption schließt den Wahlkampf und die Meinungsbildung mit ein, bevor am Theaterabend die Entscheidung fällt - und so gab es in den letzten Wochen schon Vorab-Events wie eine Bürger:innenversammlung im Foyer des Staatstheaters und Wahlspots auf Instagram. Das Publikum übernimmt auf diese Weise die Rolle des Wahlvolks - von der Meinungsbildung bis zur Stimmabgabe.


„Wir wollten, dass das Theater nicht erst um 20 Uhr beginnt – sondern früher. Dass sich etwas entwickelt, das man mitverfolgen kann, das Gesprächsstoff bietet“, begründet Lukasz die aufwändige Konzeption. „In einer Zeit, in der politische Debatten oft über Memes und Clips geführt werden, wollten wir sehen: Was passiert, wenn wir das Mittel der Inszenierung bewusst nutzen, um Fiktion und Wirklichkeit zu verschränken?“ Und wie lautet seine Bilanz nach den ersten Veranstaltungen? Ging dieser Ansatz auf? „Ja, auf jeden Fall. Wir haben viele Reaktionen bekommen, gerade auch von Menschen, die sonst nicht ins Theater gehen. Das war das Ziel!“



Protagonist:innen der Piratenrepublik: Kandidatin Frauke Stein (Esther Berkel), Republikgründer Jürgen Wolf (Darios Vaysi) und Kandidatin Liselotte Meyer (Anna Seeberger). (Bild: Lukasz Lawicki)
Protagonist:innen der Piratenrepublik: Kandidatin Frauke Stein (Esther Berkel), Republikgründer Jürgen Wolf (Darios Vaysi) und Kandidatin Liselotte Meyer (Anna Seeberger). (Bild: Lukasz Lawicki)

Die Verantwortung des Theaters


Unter die Lupe nimmt die Piratenrepublik dabei nicht nur das Verhalten der Charaktere, sondern insbesondere die Rolle der Medien. Ist das noch Unterhaltung, fragt man sich, oder will das Stück noch sehr viel mehr? „Beides“, antwortet Lukasz entschlossen. „Wir glauben an die Kraft der Unterhaltung, aber auch an die Verantwortung des Theaters, Fragen zu stellen.“ Die Piratenrepublik sei ein Spiel – ein Spiel mit Erwartungen, Rollenbildern und Meinungen. Aber: Ein Spiel mit echten Konsequenzen, zumindest im Denken der Zuschauer:innen.


„Wir werfen einen kritischen Blick auf den 'Wahlzirkus', auf Meinungsbildung und Manipulation, aber wir tun das auch mit Spaß an der Übertreibung, am Spektakel. Die Politische Komponente ist hier nicht der Feind des Vergnügens, sondern seine Partnerin.

 


Wer Lukasz aufmerksam zuhört, spürt schnell, dass ihm das Stück wichtig ist. Schon bei seinem Debüt „14 Tage Krieg“ über den russischen Angriff auf die Ukraine war ihm anzumerken, dass er sich mit seinen Themen in positiver Weise identifizieren kann. Kein Wunder, schließlich reiste er seinerzeit eigens bis nach Kiew, wo wir ihn damals per Videocall interviewten. Lukasz ist einer, von dem man sagen würde, dass er „für seine Sache brennt“. Und wahrscheinlich ist dieses Feuer auch nötig, um ein so ambitioniertes Projekt wie die „Piratenrepublik“ zu realisieren.



Mehr Gerechtigkeit riskieren? Liselotte Meyer steht für eine Politik der Gemeinsamkeit. (Bild: Lukasz Lawicki)
Mehr Gerechtigkeit riskieren? Liselotte Meyer steht für eine Politik der Gemeinsamkeit. (Bild: Lukasz Lawicki)

Wilder Ritt mit Struktur


Aber keine Sorge: Ein Lehrstück mit erhobenem Zeigefinger müssen wir trotz des Engagements nicht befürchten. „Nein – höchstens ein Lehrstück mit schmutzigen Fingern“ lacht der Regisseur. „Wir zeigen keine eindeutigen Lösungen, sondern laden dazu ein, sich selbst zu positionieren.“ Es gebe keine moralische Überlegenheit. Alle Figuren hätten Stärken, Schwächen und Widersprüche. „Vielleicht ist das unser einziger Zeigefinger: die Einladung, genauer hinzuschauen.“


Fragt sich nur, was das Publikum letztlich in den Vorstellungen auf der Bühne erwartet. Wird es entgegen aller Beteuerungen letztlich doch ein klassisches Schauspiel? Oder eher ein wildes Theaterexperiment? Auch hier lautet Lukasz klare Antwort: „Beides! Ein wilder Ritt – aber mit Struktur.“ Es gebe Figuren, Szenen, Konflikte, Musik – aber das Ganze bewege sich stets in einer Atmosphäre, in der jederzeit etwas kippen kann.


„Wir spielen mit der Form, aber nicht um ihrer selbst willen, sondern um ein Thema greifbar zu machen, das sich klassischen Erzählmustern oft entzieht: die chaotische Gleichzeitigkeit der Gegenwart.“


Von brennender Aktualität


Bei der „Piratenrepublik“ geht es also um Piraten, aber nicht um all die Klischees, die mit ihnen normalerweise einhergehen. Dafür gibt es eine große Portion Realitätsbezug. Wie passt das zusammen? „Sehr gut – vielleicht sogar besser, als uns lieb ist“, ordnet Lukasz ein. Die Konflikte, um die es gehe – Macht, Mitbestimmung, Identität, Demokratisierungsprozesse – seien keine Probleme aus der Vergangenheit, sondern brennend aktuell. „Indem wir das Setting in die nahe Zukunft holen, zeigen wir, dass es diese Dynamiken überall gibt: In politischen Bewegungen, auf Social Media, in Parteien, in uns selbst. Die Piratenrepublik ist letztlich ein Spiegel unserer Gegenwart – nur ein bisschen bunter.“


Was ist Freiheit? Frauke Stein ist konsequent libertär und glaubt an die Stärke des einzelnen. (Bild: Lukasz Lawicki)
Was ist Freiheit? Frauke Stein ist konsequent libertär und glaubt an die Stärke des einzelnen. (Bild: Lukasz Lawicki)

Blickt man sich um in der Welt und schaut man auf all die Krisenherde und Konfliktpotenziale, könnte man den Eindruck gewinnen, dass die theatralische Verknüpfung von Realität und Fiktion wichtiger denn je ist. Schließlich besitzt das Theater eine hohe Wirkungsmacht, was die Offenlegung von Missständen und den Hinweis auf nötige Veränderungen angeht.


Lukasz stimmt zu: „Theater darf nicht so tun, als sei es unberührt von dem, was draußen passiert.“ Gerade in Zeiten von Fake News, Algorithmusblasen, despotischen Wahlsieger:innen auf der Welt und eskalierenden Debatten brauche es Räume, in denen man Komplexität aushalten kann – ohne gleich eine Meinung serviert zu bekommen. Wenn wir es gelinge, das Publikum nicht nur emotional, sondern auch gedanklich zu fordern, dann mache Theater seinen Job.


„Als Autor und Regisseur des Stücks berührt es mich, wenn das Publikum den Abend als gelungen empfindet. Aber wirklich bedeutsam wird es für mich, wenn die Fragen, die wir stellen, weiterwirken – wenn der Theaterbesuch nicht mit dem Applaus endet, sondern Gedanken in Bewegung bringt.“

 

Wer angesichts dieser Langzeitwirkung befürchtet, der Spaß bliebe auf der Strecke, müsse sich keine Sorgen machen, versichert Lukasz. „Gerade weil wir so viel Ernsthaftigkeit in der Welt erleben, brauchen wir Bühnen, auf denen gelacht, gestritten, getanzt und gezweifelt werden darf. Spaß ist kein Widerspruch zum Denken – im Gegenteil: Er öffnet Türen. Und wir klopfen ziemlich laut!“



Aufregendes Theaterexperiment


Es bleibt ein gedanklicher Spagat: Auf dem Spielplan steht die „Piratenrepublik“, doch all die Bilder, die mit diesem Begriff einhergehen, müssen wir - nun ja - über Bord werfen. Was uns in der Exhalle - und im Vorfeld zur Premiere auch an anderen Orten - geboten wird, entschädigt aber für diese kleine Denksportaufgabe. Lukasz Lawicki und seinem Team ist thematisch, inhaltlich und konzeptionell ein großer Wurf gelungen. Theater wie es hier zu erleben ist - also: Theater, das sich einmischt, das Haltung und Verantwortung zeigt, das neue Wege geht und das bei alledem auch noch gnadenlos gut unterhält - sehen wir nicht alle Tage. Dabei ist es gerade diese Form, die wir heute dringend brauchen.


Viele von uns lieben zwar auch die säbelschwingenden Schurken und manche würden auch gern „Jolly Roger“ im Wind über der Exhalle sehen. Doch die Piratenrepublik bietet so viel mehr, dass man das Vermissen schon vergessen hat, bevor sich der Vorhang überhaupt hebt. Die Freie Piratenrepublik Oldenburg mag zwar den Klischees und Erwartungen nicht entsprechen - aber sie ist eines der aufregendsten Theaterexperimente der jüngeren Vergangenheit. Wann hat man schon mal die Gelegenheit, eine Republik ausrufen? Mit Piraten als Vorbild? Auf bundesdeutschem Grund und Boden? Also: Geht zu einer der zehn Wahlabende in der Exhalle, erfüllt eure republikanische Pflicht - und lasst uns alle mehr Pirat wagen!

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