Viele kennen die Geschichte: Schauspielstar Keira Knightley war einst beim Filmfest in Oldenburg zu Gast, bevor sie kurze Zeit später weltberühmt wurde. Dass diese Anekdote in Erinnerung blieb, wundert nicht: Stars faszinieren uns. Der Markenkern des Oldenburger Festivals sind allerdings die Menschen hinter der Kamera. Und auch von ihnen sind immer wieder welche zu Gast, die Chancen auf den großen Durchbruch haben. Nun ist es einem gelungen. Und wie!

Es war 2015. Der Kulturschnack lag noch in weiter Ferne, er war zu diesem Zeitpunkt nicht mal eine lose Idee, Warum auch? Ich war seinerzeit Redenschreiber im Rathaus und hatte ziemlich viel Spaß an diesem Job. Und obwohl ich in dieser Rolle bis zu 250 Texte pro Jahr produzierte, reichte mir das nicht. Zusätzlich tobte ich mich im Herbst bei einem Nebenprojekt aus. Es hieß „offblogger“ - und wie der Name schon andeutet, handelte es sich ein Blog, der von den vielen kleinen und großen Geschehnissen rund ums Internationale Filmfest Oldenburg berichtete.
Es war mein zweites Jahr bei „offblogger“, als ein junger Regisseur namens Sean Baker in Oldenburg zu Gast war. Ich erinnere mich noch gut daran, dass sein Film „Tangerine“ (Trailer) in aller Munde war, denn er zählte zu den ersten, die komplett auf einem iPhone gedreht worden waren. Damals war das spektakulär und viele zweifelten, dass der Streifen die nötige Qualität haben könnte. Doch: Die hatte er - obwohl er nicht einmal 100.000 Dollar gekostet hatte. Wer ihn seinerzeit bei den beiden Filmfest-Screenings erlebte, konnte sich dem authentischen Reiz des Transgender-Prostitution-Dramas nur schwer entziehen. Und wer irgendwo in Oldenburg mit Sean Baker sprach, konnte ebenfalls spüren: That's a man on a mission. Alle waren überzeugt, dass er seinen Weg gehen würde - wenn auch damals noch niemand ahnte, was folgen würde.

Durchgehend herausragend
Der große Applaus in Oldenburg blieb kein Einzelfall: „Tangerine“ feierte - später mit dem Zusatz „L.A.“ - weltweit große Erfolge, zumindest in Independent-Maßstäben. Beim Szene-Portal Rotten Tomatoes sind 96% aller Kritiken positiv, die Durchschnittsnote beträgt 7,9/10 - herausragende Werte. Kein Wunder, dass er bei seinem nächste Film „The Florida Project“ (Trailer) nicht mehr aus Kostengründen aufs iPhone angewiesen war, mit Willem Dafoe einen echten Star im Cast hatte und 2017 auf den Filmfestspielen in Cannes zu Gast war. Und auch hier: 96% positive Kririken, Dutschnittsnote 8,8.
Nachdem auch der nächste Film „Red Rocket“ (Trailer) von der Kritik als überaus gelungene Milieustudie im Sexworker-Bereich gefeiert wurde, sollte das nächste Werk „Anora“ (Trailer) in eine andere, massentauglichere Richtung gehen. Treu blieb sich Sean Baker zwar insofern, dass er auch hier die Handlung um eine Stripperin strickte und mit einem äußerst schmalen Budget von 6 Mio. Dollar auskam. Jedoch handelt es sich bei „Anora“ um eine „Romantic Dramedy“, die vielerorts bereits als „Pretty Woman 2.0“ bezeichnet wurde. Warum? Das deutet ein Blick auf die Handlung an: Anora, eine Sexarbeiterin aus New York, heiratet spontan einen russischen Oligarchen-Sohn - dessen Eltern sind aber alles andere als einverstanden damit sind.
Kleine Filmographie: Zwar hatte Sean Baker auch vor „Tangerine L.A.“ schon vier Filme gedreht, wie zeigen hier aber nur die Entwicklung ab diesem Zeitpunkt. (Bilder: Verleihe)
Wer ist schon Walt Disney?
Sean Baker traf mit seinem Kompromiss aus seinen bisherigen Filmen und ein wenig mehr Mass Appeal einen Nerv. Bei seiner Weltpremiere in Cannes dauerte der Applaus nach dem Screening nicht weniger als zehn Minuten. Da wunderte es niemanden mehr, dass die Goldene Palme für den besten Film schließlich an „Anora“ ging - und Baker somit zu einem der Favoriten für die Oscar-Verleihungen Anfang März 2025 wurde. Wer ihm einst in Oldenburg begegnet war, konnte sich bestätigt fühlen - wenn auch sich etwas Ungläubigkeit in die Gedanken gemischt haben dürfte.
Das Ausmaß des Erfolgs dürfte auch Baker selbst überrascht haben: In sechs Kategorien wurde „Anora“ nominiert und in gleich vier von ihnen sollte die begehrte Statue an ihn gehen: Bester Film, beste Regie, bestes Drehbuch, bester Schnitt. Und damit nicht genug: einen weiteren Oscar gewann seine Hauptdarstellerin Mikey Madison. Bakers Trophäenquartett bedeutete einen legendären Rekord: Vier Oscars an einem Abend hatte vor Sean Baker nur ein gewisser Walt Disney gewonnen - und das nicht für einen einzigen Film.
In ihrer Dankesrede betonten Sean Baker und sein Produzent Alex Coco die Bedeutung des Kinos in un ruhigen Zeiten, aber auch die Qualitäten und Möglichkeiten des Independent-Films. „Mehr davon!“, forderte Coco gar. Studio-Bosse, die Baker gedanklich bereits für die nächste Marvel-Inszenierung eingeplant hatten, mussten nach diesen Worten noch einmal umdenken.

Festival der Chancen
Auf globaler Ebene sorgte die Rede für etliche Aha-Momente: Großes Kino ist also nicht abhängig von großen Budgets? Starke Filme entstehen nicht durch kaltes Kalkül oder teuer eingekaufte Lizenzen? Das war für manche neu - in Oldenburg aber hat das niemanden überrascht. Durch das Internationale Filmfest ist an der Hunte längst bekannt, was weite Teile der Filmwelt erst nach den Oscar-Verleihungen am 2. März 2025 begriffen: Kino definiert sich nicht über Kosten. Starke Filme sind auch möglich, ohne viel Geld in die Hand zu nehmen. Und manchmal braucht es nur ein iPhone dafür.

Natürlich laufen bei einem Independent-Filmfest wie jenem in Oldenburg auch mal Streifen, die schwer zugänglich sind oder die beim Massenpublikum einfach nicht zünden. Das habe ich seinerzeit als offblogger, aber auch davor und danach immer wieder mal erlebt. Zum Wesen eines Experiments gehört eben auch, dass es schiefgehen kann. Es gibt also keine Garantie, dass man auch den nächsten Oscar-Rekordhalter zuvor in Oldenburg sehen kann. Diese Unvorhersehbarkeit ist im Zeitalter der Algorithmen etwas angenehm unangepasstes.
Das Oldenburger Festival bietet aber ganz sicher eines: Chancen. Wir haben hier vor unserer Haustür die Gelegenheit, echte Entdeckungen zu machen. Wer 2015 mit dabei war, hat sofort gespürt, dass mit Sean Baker jemand Besonderes zu Gast war - auch wenn man nicht Teil des offblogger-Teams war. Sein Film „Tangerine“ war bei weitem nicht der einzige, aber einer der besten Beweise dafür, dass es eben nicht nur obskure Machwerke sind, die beim Internationalen Filmfest Oldenburg laufen, sondern in bestem Sinne eigentümliche Werke von charakterstarken Menschen. Mit etwas Glück sind darunter auch vielversprechende Werke von Filmemacher:innen, die zehn Jahre später erfolgreicher sind als Walt Disney. Und die nächste Keira Knightley? Schaut sicher auch mal vorbei.
