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DIE AUGEN OFFEN HALTEN

Es ist nicht ganz einfach, die Qualität des eigenen Standorts korrekt einzuschätzen. Der enge und starke Bezug verhindert Neutralität. Und dieses Prinzip gilt auch für die lokale Street Art Szene: Man glaubt, sie wachsen zu sehen - und auch ihre Bedeutung für die Stadt. Aber ist das wirklich so? Die Antwort auf diese Frage fanden wir ausgerechnet: ganz woanders.


Weltweit vernetzt: Ob im spanischen Ronda oder im australischen Melbourne: Überall begegnen wir Kunst, die wir aus Oldenburg kennen. (Bilder: Kulturschnack (3), OTM)

Februar 2023: Es ist ein heißer Spätsommertag in Melbourne. Unser Weg führt durch die Straßen der Stadtteile Fitzroy und Collingwood. Mit der Kultkneipe Naked for Satan als Nukleus bilden sie ein subkulturelles Zentrum der südaustralischen Metropole - nah dran an den Wolkenkratzern des CDB, aber weit genug weg, um eine ganz eigene Welt darzustellen. Ein Grund, warum wir hier sind: die aktive Street Art Szene, die überall ihre großen und kleinen Spuren hinterlässt.


Spontan ändern wir unsere Route, denn der sechsjährige Knirps muss „unbedingt“ zum nächsten Spielplatz. Der Deal dieser Reise: Wann immer einer in der Nähe ist, geht's geradewegs dorthin. So auch jetzt. Wir nehmen eine unscheinbare Seitenstraße, man erwartet hier: nichts. Und doch geht der Blick zur Seite, auf einen Hinterhof - und plötzlich explodieren die Synapsen. Zwischen Bierkisten und Mülltonnen prangt ein Mural, das uns seltsam bekannt vorkommt. Und schnell wissen wir auch warum: Die Künstlerin - Tayla Broekman - ist seit dem MEMUR-Festival im August 2022 auch mit einem Werk in Oldenburg vertreten!



Kulturaustausch im Kopf


Versteckt: Taylas Werk befindet sich nicht gerade in einer 1A-Lage. Dennoch hat es eine starke Wirkung. Oder gerade deswegen? (Bild: Kulturschnack)

Wenn man unterwegs ist an anderen Orten, kann man der Kultur auf ganz unterschiedliche Weise begegnen. Naheliegend ist immer der Weg ins nächste Museum, schließlich setzen die Kunsttempel ihre Werke stets perfekt in Szene. Doch manchmal fehlt etwas: nämlich der Anknüpfungspunkt an die reale, ganz alltägliche Welt. Genau das bietet die Street Art, denn sie passiert dort, wo die Menschen sich bewegen, aufhalten, leben.


Diese Nahtlosigkeit zwischen Kunst und Alltag hat eine eigene Qualität, weil sie die Werke nahbarer und authentischer erscheinen lässt. Wenn man dann auch noch Beziehungen herstellen kann zur eigenen Heimat, dann findet im Kopf plötzlich ein persönlicher Kulturaustausch statt. Dass Menschen an ganz unterschiedlichen Teilen der Erde von der gleichen Kunst fasziniert sind, dass sie also grenzüberschreitend funktioniert, ist eine geradezu mitreißende Erkenntnis. Das Unerwartete und Überraschende macht dieses Erlebnis so intensiv.


Und noch etwas wird einem in solchen Momenten bewusst: Oldenburg spielt durchaus mit im Konzert der internationalen Street Art Szene. Unsere Stadt ist eben kein Provinznestchen (mehr?), das seine Existenz im Schatten der coolen Metropolen fristet. Nein, Oldenburg hat inzwischen eigene Akzente gesetzt und ist mittlerweile mit einigen Werken auf der Landkarte der urbanen Kunst vertreten. Genau das gelang auch einem noch kleineren Städtchen - was für eine weitere Überraschung sorgen sollte,


Fast wie in Australien: Beim MEMUR Festival im August 2022 war das Wetter nicht viel anders als in Down Under - wie auch Tayla Broekman bei der Arbeit an ihrem Werk spürte. (Bild: Kulturschnack)

Help me, Ronda!


Oktober 2024: Mit dem Mietwagen rollen wir gemächlich ins andalusische Ronda, knapp 800 Meter hoch gelegen und vor allem bekannt für die spektakuläre Puente Nuevo, die Anfang des 19. Jahrhunderts zeitweise das höchste Brückenbauwerk der Welt war. Abgesehen davon erwarten wir nicht unheimlich viel von der 33.000-Einwohner:innen-Stadt. Doch als wir das Gewerbegebiet am Stadtrand hinter uns lassen und rechts in die langgestreckte Calle Sevilla biegen, trauen wir unseren Augen nicht: Vor uns prangt eine ganze Galerie frischer Murals, eine Art spanische Version der MEMUR-Wall in Oldenburg.


Fast wir in Oldenburg: Auch in Ronda zieren die Werke Okudas nicht die schönsten Orte der Stadt - in diesem Fall Gebäude oberhalb des lokalen Busbahnhofs. (Bild: Kulturschnack)

Und während wir diesen Eindruck noch verarbeiten, funkeln bereits bunte Farben am Horizont, die uns erneut seltsam bekannt vorkommen. Und der Grund dafür ist auch dieses Mal in Oldenburg zu finden - denn wir kennen sie von Okudas riesigem Mural „Puppy Love“ gegenüber des Stadtmuseums. Der spanische Street Artist hat sich auch in Ronda verewigt - und das nicht nur einmal, wie wir später erfahren werden


Vielleicht ist der Überraschungs-Effekt nicht ganz so stark wie damals in Australien, am anderen Ende der Welt, in einem vergessenen Hinterhof. Aber auch hier kommt der Moment vollkommen unerwartet. Schließlich erwartet man in Ronda ganz viel Geschichte, aber nicht unbedingt zeitgenössische Straßenkunst. Und schon gar nicht welche, deren Urheber man dank seiner Heimatstadt sofort erkennen und einordnen kann.


Von Okuda gibt es in der kleinen Stadt noch ein weiteres Werk, zudem wurden an der Avenida de Malaga fünf Giebel größerer Wohngebäude vom baskischen Künstler Arikaio mit Murals gestaltet. Und die Galerie, die wir in der Calle Sevilla sahen? War das Ergebnis eines Graffiti Contests, die von der Liga Nacional de Graffiti an wechselnden Orten veranstaltet werden. Dass all dies in einer vergleichsweise kleinen Stadt passiert, ist natürlich kein Zufall. Die Street Art Szene genießt den vollen Support der Stadtverwaltung. Sie ist zwar stolz auf die Geschichte der Stadt und ihr visuelles Erbe, sie will aber mit der Eindimensionalität brechen, die damit einhergeht. Und sie ist mit diesem Ansatz auch erfolgreich, denn wer in Ronda abseits der touristischen Pfade unterwegs ist, denkt ziemlich oft: Wow. Cool. Und genau darum geht es.


Von der Verwaltung gewünscht und gefördert: Street Art Galerie in der andalusischen Kleinstadt Ronda. (Bild: Kulturschnack)

GRAFFITI ALS SEHENSWÜRDIGKEIT DIE STREET ART TOUREN DER OTM Die rasante Entwicklung des Themas Street Art in Oldenburg ging natürlich auch an der städtischen Tourismusgesellschaft OTM nicht vorbei. Seit Frühjahr 2023 bietet sie spezielle Touren zu Fuß und per Rad an, um die ganze Vielfalt der Straßenkunst erlebbar zu machen. Die Resonanz war von Anfang an stark und bleibt konstant gut. Wer noch nicht dabei war, sollte das unbedingt nachholen - denn manches Kunstwerk hat nur eine geringe Lebenserwartung. Alles weitere? Erfahrt ihr hier,


Okuda, Ash... und Banksy?


Manchmal verläuft der Weg der Überraschung aber auch anders herum. Der Künstler Victor Ash ist schon lange eine Legende der internationalen Street Art Szene. In vielen Metropolen wie Berlin und Kopenhagen sind gleich mehrere großformatige Werke von ihm zu finden. Der Astronaut in Kreuzberg gehört sicher zu den bekanntesten, Metal-Fans kennen den Wolf von Kopenhagen, visuell noch eindrucksvoller sind aber seine Arbeiten in Houston und Oakland. Seit 2015 gibt es in den Niederlanden ein etwas weniger auffälliges Werk, nämlich den „Bull of Amsterdam“, der unweit der U-Bahn-Haltestelle Zuid einen Büro- und Wohnkomplex ziert. Und dieser Bulle bekam 2022 Gesellschaft in Oldenburg.


Umgekehrter Effekt: Victor Ash ist schon lange eine international bekannte Szenegröße. 2023 kam er nach Oldenburg und erschuf den „Stallion of Oldenburg“. (Bilder: Victor Ash, Kulturschnack)

Tatsächlich über Nacht fertigte Victor Ash den großformatigen „Stallion of Oldenburg“ an einem Gebäude in der Rosenstraße an. Als wir erstmals davon hörten, konnten wir das kaum glauben. Victor Ash? In Oldenburg? Für den ist doch eher Bremen die absolute Untergrenze - dachten wir. Ist es aber nicht, wie wir später erfuhren, denn wie beinahe alle anderen Street Art-Größen wählt auch Victor Ash seine Handlungsräume nach Interesse und nicht nach der Größe aus. Es dürfte also nur eine Frage der Zeit sein, bis Banksy in Oldenburg auftaucht und uns ins Spotlight der internationalen Presse rückt.


STREET ART VON SAY LOVE NUR DIE LIEBE ZÄHLT

Gut lachen: Say Love bringen positive Vibes in die Stadt. (Bild: Kulturschnack)

Überall in der Stadt - vor allem auf den Rückseiten von Verkehrsschildern - finden sich die kleinen Pixel Art-Kunstwerke des Wilhelmshavener Kollektivs Say Love. Was die Gruppe über ihre Kunstform denkt, warum sie häufig Motive aus den 1980er Jahren verwendet und was sie zu ihren Aktionen bewegt? Das haben wir sie in diesem Artikel gefragt. Eines wird dabei klar: Nur die Liebe zählt.


Home Sweet Home


So oder so setzt sich ein Trend fort. Schon die „Kultur aus Tausch“-Reihe des Oldenburger Graffiti-Künstlers Sbek hatte 2020 den Stellenwert dieser Kunstform deutlich gehoben. Auch wenn die Medien vor allem seine Konterfeis von Rickey Paulding oder Keno Veith lieben, waren es gerade die anderen - weniger prominenten - Portraits, die auch Menschen begeisterten, die mit Street Art nichts am Hut hatten. Viele Autofahrer:innen kennen die Massai-Kriegerin an der Stedinger Straße oder den Aborigines-Jungen an der Unterführung in Wechloy, Osternburger:innen lieben den gigantischen Maori an der Rückseite der Feuerwache II. Gemeinsam hatten die Werke, dass sie auch für Laien attraktiv waren - und deswegen das Eis brachen, was die Akzeptanz der Graffiti und Murals als etablierte Kunstform anging.


Starke Wirkung: Der Maori ist das größte Werk der „Kultur aus Tausch“-Reihe, die im Jahr 2020 entstand. (Bild: Kulturschnack)

Mit den MEMUR- und Brückenkunst-Festivals, mit Okuda und Victor Ash folgten in den letzten Jahren dann weitere starke Akzente, so dass man Oldenburg inzwischen als Street Art City bezeichnen kann, ohne rot zu werden. Wie gut unsere Stadt im Vergleich wirklich ist - das spürt man aber vielleicht weiterhin am besten, wenn man im Rest der Welt unterwegs ist. Wenn man durch die Straßen der kleinen und großen Metropolen streift und die Artists oder ihren Stil wiedererkennt, weil man ihnen daheim schon mal begegnet ist. Dieser Effekt ist in doppelter Hinsicht unbezahlbar - weil er einerseits die Grenzenlosigkeit der Kunst erlebbar macht und weil er andererseits zeigt, dass Oldenburg einiges zu bieten hat, was auch anderswo geschätzt wird.


Das Beste: Um das selbst zu erleben, muss man nicht nach Melbourne oder nach Ronda, dafür reichen auch Bremen, Hamburg und Berlin. Hauptsache ihr haltet die Augen offen!


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