Es war eine der großen Überraschungen des letzten Jahres: „Ein außergewöhnliches Ereignis“. Das dreitägige Festival für elektronische Tanzmusik wurde weit über die Region hinaus als spektakuläres Event wahrgenommen und lockte viele Elektro-Fans nach Oldenburg. Dabei spielten nicht nur die Acts eine wichtige Rolle, sondern auch die Atmosphäre und der besondere Ort. Nun folgt die zweite Auflage.
Ortstermin im Oldenburger Hafen. Wir stehen auf dem Gelände der alten Kläranlage zwischen überwucherten Industrieanlagen. In der Umgebung ragen mächtige Silos in den Himmel und bilden eine Skyline nach Oldenburger Art. An der gemächlich dahinfließenden Hunte ankern Binnenschiffe und werden mit Schüttgut beladen. Unter ohrenbetäubendem Lärm kommt plötzlich ein Güterzug angerumpelt, um auf dem benachbarten Areal von Rhein Umschlag beladen zu werden. Kein Zweifel: industrieller als hier wird Oldenburg nicht mehr. Was hat das nur mit Kultur zu tun?
So einiges, wie sich schnell herausstellt. Nicht etwa, weil einige hundert Meter weiter in Richtung Innenstadt vor einigen Jahren der Theaterhafen stattfand. Nein, hier geht es um etwas anderes. Denn ausgerechnet an diesem „Unort“, fand im vergangenen Jahr ein außergewöhnliches Ereignis statt, nämlich ein dreitägiges Festival für elektronische Tanzmusik. Mehr als 500 Menschen feierten damals ein großes Fest - das sich sogar bis nach Leipzig und Berlin rumsprach, so dass der MDR es in seinem Podcast „Raveland“ featurete - was wiederum zu einem der ersten Kulturschnack-Artikel führte.
EIN AUSSERGEWÖHNLICHES EREIGNIS FESTIVAL FÜR ELEKTRONISCHE TANZMUSIK 2. BIS 4. SEPTEMBER 2022 15 UHR - 5 UHR
HOLLER LANDSTRASSE 15 26135 OLDENBURG TAGESTICKETS AB 22 EURO
Abenteuer Wasserkante
Verantwortlich für diese Ereignis war nicht etwa eine große Berliner Agentur, sondern der Freizeitlärm e.V. aus Oldenburg. „Es gab schon länger den Gedanken, gemeinsam einer Outdoor-Veranstaltung auf die Beine zu stellen“, erzählt Gründungsmitglied Gesine Geppert, die sich ansonsten um die Sparte 7 des Staatstheaters kümmert. Anstatt darüber zu lamentieren, dass etwas in Oldenburg fehlt, wollte der Verein diese Leerstelle selbst mit Leben füllen. Doch wie entdeckt man solchen einen Ort? Sitzt man tagelang vor Google Earth und sucht den Screen Pixel für Pixel nach Brachland ab? Nein, die Wahrheit ist analoger und abenteuerlicher: „Auf der Suche nach einem Ort sind drei von uns eines Tages stadtauswärts die Wasserkante der Hunte runtermarschiert. Und dabei stießen sie irgendwann auf dieses Gelände.“
Dabei handelt es sich um die ehemalige Oldenburger Kläranlage auf der Südseite des Flusses: Mitten in der Hafenlogistik, dabei aber erstaunlich grün und mit parkähnlichen Ausmaßen. Aufgedrängt hat es sich damals allerdings nicht: Die Anlagen waren völlig überwuchert mit einer Spontanvegetation aus Moos, Gräsern und Brombeerhecken. Dennoch sah das Freizeitlärm-Trio genügend Potenzial, um große Teil ihrer - nun ja - Freizeit in die Realisierung eines außergewöhnlichen Ereignisses zu investieren. „Als dann noch Rückenwind durch eine Förderung von Neustart Kultur kam und auch die Stadt Oldenburg Unterstützung signalisierte, ging es richtig los“, erinnert sich Gesine an das letzte Jahr zurück.
Überhaupt kann sich der Verein über mangelnde Unterstützung nicht beklagen. Nicht nur gab es finanzielle und organisatorische Unterstützung von Staat und Stadt, auch der OOWV als Eigentümer des Geländes stand der Idee des Elektro-Festivals sehr offen gegenüber. und sorgte sogar für die gärtnerische Deeskalation auf dem Gelände. Gleiches galt für die benachbarten Unternehmen, die ebenfalls Unterstützung signalisierten und das Festival zum Teil selbst besuchten. Und so ergeben sich ausgerechnet an diesem ungewöhnlichen Ort mit so unterschiedlichen Beteiligten neue Allianzen, die man in dieser Form vorab niemals erwartet hätte.
Entwarnung, Entspannung, Experiment
Diese ungemein positive Resonanz ist fast schon überraschend. Schließlich winken manche Menschen bei den Stichworten Elektro, Techno und Rave intuitiv ab: Sie empfinden die Dauerbeschallung als zu anstrengend. Gesine gibt jedoch Entwarnung: „Bei uns läuft irgendwie schöner, entspannter Elektro. Es ist nicht das, was man in den Neunzigern auf einer richtig krassen Techno-Party gehört hat und dabei fast vom Stuhl geflogen ist.“ Für die Expert:innen: Das Ganze bewegt sich zwischen 100 und 140 bpm. Für alle anderen: Niemand muss sich fürchten, auch wenn zuhause meist was anderes läuft. Weil der Weg nicht weit ist, sollte man einfach ein Selbstexperiment wagen. Näher kann uns ein Event solcher Qualität jedenfalls nicht mehr kommen. Ihr wollt vorab was hören? Kein Problem: Unter dem Artikel findet ihr eine Playlist!
Ruhe vor dem Sturm: Das Festivalgelände ohne Festival (Bilder: Kulturschnack)
Bei den Acts wurde darauf geachtet, dass Stile und Sets zusammenpassen, damit - sozusagen - eine zusammenhängende Geschichte erzählt wird. Und das ist noch nicht alles: „Wir haben auch versucht, möglichst paritätisch zu buchen“, betont Gesine. Auch in der elektronischen Musik sei es so, dass mehr Männer gebucht würden und dass die viele bekannte DJs Männer seien. Damit will der Verein bewusst umgehen - und vielleicht auch etwas verändern. Damit schlägt er in eine ähnliche Kerbe wie das kreativ:LABOR mit seiner Sommer-Reihe „N!CE“, bei der dieses Thema ebenfalls zum Programm gehörte. Es ist wichtig und wunderbar, dass solche Signale von Oldenburg ausgehen.
Mehr als Musik
Wer sich auf dem Gelände des ehemaligen Klärwerkes umschaut und wer sich ein wenig mit den Veranstaltern unterhält, spürt sehr schnell: Hier geht es um mehr als „nur“ Musik. Wichtig sind auch Werte, die in einer Szene - sei es Techno, Punk oder Hochkultur - nicht immer auf der Tagesordnung stehen: Toleranz, Integration, Respekt, Sensibilität, Empathie, Awareness. Das Ereignis soll für alle Besucher:innen außergewöhnlich sein. Deshalb wurden zwar national bekannte DJs verpflichtet, doch sie werden nicht auf ein Podest gestellt, die Stars werden nicht besonders hervorgehoben. „Bei uns geht es nicht um Namen und Personen. Wir wollen alle gemeinsam auf Augenhöhe feiern“, erklärt Gesine den Hintergrund.
Wichtig ist ihr auch ein anderes Element des außergewöhnlichen Ereignisses: Auf die umliegenden Silos werden an den Veranstaltungstagen Kunstwerke projiziert, die von lokalen Künstler:innen eigens für das EAE entworfen wurden. Es geht also um eine ganzheitliche Erfahrung. Im Mittelpunkt steht zwar die elektronische Musik, um die herum ist aber ein Gesamtkunstwerk entstanden, das alle Sinne anspricht.
DER EAE DUDEN außergewöhnlich au|ßer|ge|wöhn|lich Adjektiv a) nicht in, von der gewöhnlichen, üblichen Art; vom Üblichen, Gewohnten abweichend; ungewöhnlich b) über das gewohnte Maß hinausgehend; sehr groß Synonyme: auffallend, ausgemacht, ausgesprochen, außerordentlich, äußerst, beachtlich, bedeutend, bemerkenswert, besonders, erstaunlich, extraordinär, extrem, ganz, gehörig, grenzenlos, hellauf, höchst, in hohem Maße, leidenschaftlich, maßlos, tief, übermäßig, unanständig, unbändig, unbeschreiblich, ungemein, ungewöhnlich, unsagbar, unübersehbar, unvergleichlich Ereignis Er|eig|nis Substantiv, Neutrum besonderer, nicht alltäglicher Vorgang, Vorfall; Geschehnis Synonyme: Affäre, Anlass, Aufhänger, Begebenheit, Ding, Episode, Erlebnis, Event, Gelegenheit, Geschehen, Geschehnis, Intermezzo, Markstein, Posterioria, Sache, Sensation, Veranstaltung, Vorgang, Vorkommnis Freizeitlärm Frei|zeit|lärm Substantiv, Maskulinum entsteht durch Einrichtungen oder menschliche Verhaltensmuster in Ausübung von Aktivitäten in der Freizeit, also während der nicht erwerbsbezogenen Tätigkeit, unabhängig von der Tageszeit.
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Moment der Veränderung
Auffällig: Das außergewöhnliche Ereignis ist eine von mehreren aktuellen Kulturveranstaltungen, die sich irgendwo zwischen den Attributen jung, cool, urban, zeitgemäß einordnen lassen. Oft sind dabei relativ neue Akteure involviert, wie z.B. das Institut für Verknüpfung oder eben Freizeitlärm. Kommt da etwa Größeres in Bewegung? „Ja, da tut sich was“, stimmt Gesine zu. „Da wird gerade eine neue Generation aktiv, deshalb verändert sich in Oldenburg etwas. Es finden Sachen statt, die es so vorher nicht gab und die nicht aus einer bestehenden Institution oder Struktur heraus entstehen, sondern wirklich neu dazukommen.“
Genau das erleben die Oldenburger:innen ganz direkt: Plötzlich ist der Sommer keine kulturelle Ruhephase mehr, sondern das genaue Gegenteil: Eine Zeit neuer Erfahrungen und Erlebnisse. „Momente der Veränderung gab es schon immer“, stellt Gesine fest. Die aktuelle Situation nach den zahlreichen Corona-Lockdowns sei aber eine besondere. Das Bewusstsein für die Bedeutung der Kultur sei spürbar gewachsen. „Vielleicht haben wir jetzt die Chance, die Veränderung ein bisschen weiter oder ein bisschen schneller voranzutreiben“, hofft Gesine. Wenn sie so aussieht wie hier, dann kann das nur gut für Oldenburg sein. Und dann wäre der alte Ausspruch des Schriftstellers Max Frisch wieder einmal bestätigt: „Die Krise ist ein produktiver Zustand. Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.“
Blick zurück: So stimmungsvoll war es letztes Jahr (Bilder: Ulf Duda, Marjan Grabowski)
Schon wieder Metropole
Den Vergleich zu den großen Metropolen haben wir schon beim MEMUR Festival gezogen. Wir wollen das nicht abnutzen, doch beim EAE stellt sich ein ähnliches Gefühl ein. Vom Setting über Setlist wird man das Gefühl nicht los, dass dieses Ereignis nicht nur in Oldenburg außergewöhnlich wäre, sondern auch in größeren Städten. Den lieben Menschen vom Freizeitlärm e.V. ist es gelungen, ein Format zu schaffen, das für die Kernklientel attraktiv ist und weit über die Stadtgrenzen nach außen strahlt - das aber auch Menschen vor Ort neugierig machen dürfte, die mit elektronischer Musik bisher nichts am Hut hatten.
Dass die Abstände zwischen herausragenden Kulturveranstaltungen nun so kurz werden, könnte ein Zeichen größerer Veränderungen sein. Oldenburg scheint Neues zu gewinnen, ohne Altes zu verlieren. Unabhängig davon darf man die Momentaufnahme einfach genießen: Veranstaltungen wie MEMUR und EAE sind eine riesige Bereicherung für die Stadt. Und nein, sie richten sich eben nicht nur an eine bestimmte Klientel. Ob man zur Zielgruppe gehört oder nicht, entscheiden nämlich nicht die Veranstalter, sondern die eigene Neugier. Unser Tipp: Lasst ihr freien Lauf, auch wenn ihr sonst zu Death Metal mosht oder bei Roland Kaiser mitgröhlt. Wir sind alle massiv untertanzt. Lasst uns das ändern - an einem tatsächlich außergewöhnlichen Ort, bei einem tatsächlich außergewöhnlichen Ereignis.
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