Er steht da wie ein Gast aus einer anderen Zeit: Der Pulverturm am Schlosswall. Er ist der einzig verbliebene Rest der Oldenburger Stadtmauer aus dem frühen 16. Jahrhundert. Ursprünglich als Geschützturm konturiert, diente er den adligen Herrschern in friedlicheren Zeiten als überdimensionales Eisfach. Und heute? Ist er ein markanter Bezugspunkt an einer verkehrsreichen Straße - und ein Ort für besondere Kunstakzente!
Wer hin und wieder in europäischen Großstädten unterwegs ist, entdeckt mit Sicherheit historische Stätten, die auf beinahe geniale Weise nachgenutzt werden. Oft blickt man neidvoll auf die jeweiligen Nachbar:innen, weil ihnen dieser Coup gelungen ist und hierzulande allzu oft nur Verwaltungen o.ä. in alten Gebäuden residieren.
Den Pulverturm jedoch kann man in diese Reihe der gelungenen Beispiele integrieren. Der von außen eher unscheinbare Bau sucht nicht unbedingt offensiv die Aufmerksamkeit der Passant:innen. Er steht einfach nur da. Im inneren bietet er allerdings einen sehr besonderen Raum. Er fühlt sich an wie eine Art Schutzkapsel, die uns aus dem Alltag entführt, obwohl eben jener nur wenige Meter weiter pulsiert, dröhnt, lärmt. Und hier, mitten im Zentrum den Geschehens, bietet diese Oase die Auseinandersetzung mit ungewöhnlicher, ambitionierter Kunst. Verantwortlich dafür: das Edith-Ruß-Haus für Medienkunst, das hier - neben dem Haupthaus an der Peterstraße - einen weiteren Spielort hat.
AYÒ AKINWÁNDÈ ALL THE WORLD'S PROTESTS
NOCH BIS ZUM 31. OKTOBER 2022
FR 14 - 18 UHR
SA 10 - 18 UHR
SO 10 - 18 UHR EINTRITT FREI!
PULVERTURM
26122 OLDENBURG
Dieses unerwartete Angebot in an einem historischen Ort schlägt immer wieder Zündfunken im Kopf. Es inspiriert uns, bietet Möglichkeiten zur Auseinandersetzung und zur Horizonterweiterung. Dabei spielt es fast keine Rolle, ob - wie sonst gelegentlich - Keramik oder - wie jetzt - Digitalkunst gezeigt wird. Die paar Schritte die Treppe hinauf in den Kuppelbau lohnen sich grundsätzlich immer, schon weil sie diesen wunderbaren Kontrast zu ihrer Umgebung bieten. Aber natürlich auch, um Kunstformen zu erleben, die uns nicht täglich begegnen. Oder ein doch - nur getarnt als Nachrichten.
Proteste überall
Momentan ist der Kontrast zur Außenwelt im Pulverturm nämlich nicht so groß wie sonst. Die aktuelle Ausstellung „All the world's protests“ des nigerianischen Künstlers und Stipendiaten des ERH Ayo Akinwándé bietet uns in doppelter Hinsicht Zündfunken. Denn wie der Titel andeutet, ist sie inhaltlich hochpolitisch. Gezeigt werden Demonstrationen aus dem Jahr 2019, das als „Jahr der Proteste“ in die Geschichte einging. Auf insgesamt 44 Monitoren und 12 Tonspuren erleben wir sie in Bild und Ton - und begeben und damit in ein audiovisuelles Rauschen, das uns direkt an die jeweiligen Brennpunkte der Geschichte entführt. Die zwangsläufige Dissonanz ist dabei Teil des Werks, denn die Lage vor und während Demonstrationen ist eben: unübersichtlich.
Schon rein optisch ist das äußerst beeindruckend: Wie ein Spinnennetz verteilen sich die Monitore über die gesamte Kuppel, wir werden vollständig umgeben von Kundgebungen, Aufmärschen, Machtspielen. Wohin wir auch schauen, kämpfen Menschen für ihre Sache. Man kann nicht anders, als das bewegend zu finden.
Vom Funken zum Flächenbrand
Aber da ist ja auch noch die inhaltliche Ebene. Was wir sehen, ist nicht inszeniert, niemand führt Regie. Wir sehen die Realität, wir sehen Wunsch und Wille zur Veränderungen und wir sehen auch eine Gegengewalt. Allzu oft sind es ja erste Proteste, die einen entscheidenden Zündfunken schlagen, der schließlich zu einem Flächenbrand wird. Anders ausgedrückt: Große Veränderungen beginnen im Kleinen, mit einer mutigen Position und dem folgenden Protest.
Dass all das - dieses wilde Rauschen aus Bildern und Tönen - während der Corona-Lockdowns auch noch mit einem internationalen Ensemble vertont wurde und man diesen Prozess zusätzlich auf zwei größeren Monitoren erleben darf, krönt die Erfahrung noch. Gott sei Dank stehen dafür Kopfhörer zur Verfügung, sonst würde es schwer fallen, sich darauf zu konzentrieren.
Früher ein Risiko, heute eine Bereicherung: Zündfunken im Pulverturm (Bilder: Kulturschnack)
Kunstwerk Weltgeschehen
Es klingt zunächst grotesk, aber: Proteste haben einen eigenen Reiz. Das liegt zum Teil an ihrer existenziellen Natur. Für die Teilnehmer:innen bedeuten sie ein Risiko, manchmal sogar Lebensgefahr. Doch sie gehen trotzdem auf die Straße, weil ihr Anliegen groß genug, der Handlungsdruck hoch genug ist. Wenn man so will, sind Proteste reale Dramen, mit Gut und Böse, Krise und Klimax. Dass all das aber ganz real ist, verursacht bei den Betrachter:innen bisweilen Gänsehaut. Nicht zuletzt deshalb, weil die Geschichte der Proteste niemals auserzählt ist. Es wird sie immer geben - weil es immer Ungerechtigkeit geben wird. Grüße in den Iran.
Die Ausstellung von Ayo Akinwándé führt uns eindrucksvoll vor Augen, dass Proteste nicht zwangsläufig eine Frage des Wohnorts oder Wohlstands sind. Sie sind über den ganzen Globus verteilt, nicht nur in Venezuela, Myanmar oder Nigeria, sondern auch in Schweden, Deutschland und Hongkong. Dass der Pulverturm mit seinem Kuppeldach den Eindruck der Globalität noch verstärkt, macht die Erfahrung noch intensiver.
Zündfunken im Pulverturm: Das ist normalerweise keine gute Idee. Doch hier wird dieses alte Prinzip vollkommen auf den Kopf gestellt. Denn durch die audiovisuellen Funken entsteht ein Feuer, das unseren Geist plötzlich erhitzt. Was früher also ein Worst Case gewesen wäre, ist heute also ein Bast Case. Und deshalb ist er ein absoluter Gewinn - dieser Gast aus einer anderen Zeit.
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